Flensburg: Prozess wegen ein Silvesterdemonstration

Psychisch geholfen

In Flensburg stehen 44 Personen nach einer Demonstration vor Gericht. Ihnen wird »besonders schwerer Landfriedensbruch« vorgeworfen. Davon kann aber keine Rede sein

Für den Hamburger Strafverteidiger Andreas Beuth war das Urteil gegen seinen Kieler Mandanten vom vergangenen Mittwoch geradezu überraschend mild. Das Amtsgericht Flensburg verurteilte den Angeklagten wegen »einfachen Landfriedensbruchs und Widerstands« zu einer Geldstrafe von 105 Tagessätzen. Mit diesem Strafmaß wich der Richter von der bisherigen Linie der Flensburger Justiz deutlich ab, über die Teilnehmer eines »Silvesterspaziergangs« wegen »Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall« drakonische Strafen zu verhängen. Die ersten drei Angeklagten bekamen neun Monate Gefängnis auf Bewährung. Beuth will dennoch in die Berufung gehen.

Flensburg ist keine Stadt, die in der Vergangenheit wegen Demonstrationen oder Reaktionen der Polizei für Schlagzeilen gesorgt hätte. Und so beginnt auch eine Spontandemonstration am frühen Abend des 31. Dezember 2001 ganz harmlos. Etwa 80 Flensburger und ein paar Freunde, die zu Silvester angereist sind, versammeln sich, um angesichts des Afghanistankrieges und der Terrorismushysterie in Deutschland für die Verteidigung der Grundrechte einzutreten. Die Demo ist nicht angemeldet, nur über Mundpropaganda kommen die Leute zusammen. Zunächst verläuft alles friedlich, lediglich ein paar Silvesterböller und Leuchtraketen fliegen in die Luft.

Dann sprühen einzelne Teilnehmer Parolen an Hauswände, offenbar unbemerkt von den meisten anderen. Zivilbeamte schreiten ein. In der Nähe vom Südermarkt kommt es zur Eskalation, als die Polizei mit Verstärkung anrückt und die Lage für alle Beteiligten unübersichtlich wird. Einzelne Polizisten gehen gegen die Demonstrierenden vor, andere halten sich zurück. An der Rathausstraße wird der ganze Zug von der Polizei attackiert.

»Es kommt zu einer regelrechten Treibjagd auf die nur noch fliehende Menge«, berichtet ein Teilnehmer. In einem Hof ist Schluss. Polizisten bilden einen Kessel, prügeln mit Schlagstöcken auf die eingeschlossenen 44 Demonstranten ein und sprühen Pfefferspray. Alle werden abgeführt und bis zu 28 Stunden festgehalten, teilweise zu sechst in unbeheizten Einzelzellen und zunächst ohne die Möglichkeit, auf die Toilette zu gehen. Schließlich wird allen »gemeinschaftliche Sachbeschädigung« vorgeworfen.

Doch damit gibt sich die Staatsanwaltschaft noch nicht zufrieden. Am 15. Januar filzen 120 Polizisten das Wohnprojekt Hafermarkt und sechs weitere »Objekte«. Offensichtlich suchen die Beamten in den »Gewaltzentralen« Flensburgs nach Gegenständen, mit denen der Vorwurf der Sachbeschädigung begründet werden kann. Die Razzien erweisen sich als Flop, gefunden wird nichts. »Es geht der Polizei darum, die linke Struktur in Flensburg zu durchleuchten«, lautete eine erste Einschätzung der Betroffenen. Doch diese Bewertung erweist sich im Nachhinein als offensichtlich zu harmlos.

Denn wenige Wochen später konstruiert die Staatsanwaltschaft aus einem möglichen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, der mit dem Abfeuern von Leuchtraketen zu begründen sein könnte, den Vorwurf des »besonders schweren Landfriedensbruches«. Es werden Anklagen gegen alle 44 Personen verfasst, die bis auf die unterschiedlichen Namen im Kopf des Standardbescheides identisch sind. Gegen niemanden wird ein eigentlich notwendiger individueller Tatvorwurf erhoben. Zudem werden restriktive Maßnahmen für die Prozesse angeordnet, um es den Angeklagten möglichst schwer zu machen. So soll die Silvesternacht nicht in einem Großverfahren aufgerollt, sondern jeder Fall einzeln verhandelt werden.

Darüber hinaus muss sich jeder der 44 Angeklagten einen eigenen Anwalt suchen, kein Verteidiger darf zwei Mandanten vertreten. In Flensburg gibt es aber nur wenige Anwälte, die sich auf Politprozesse dieser Art spezialisiert haben. »Das Verbot von Mehrfachverteidigung ist ein Unding«, sagt Andreas Beuth, der mehr oder weniger eingesprungen ist, um seine Anwaltskollegen aus ganz Norddeutschland zu unterstützen. »Ich kann nur zu dem Eindruck gelangen, dass eine rechtsstaatliche Verteidigung gar nicht erwünscht ist.«

Unsäglich findet auch der Kieler Anwalt Axel Hoffmann, der zurzeit noch für mehrere Mandanten aus Flensburg zuständig ist, die ganze Geschichte. Er sieht sich in der Begründung der ersten drei Urteile gegen Bremer Demonstranten bestätigt. Den Angeklagten wird »psychische Beihilfe zum schweren Landfriedensbruch« angelastet. Für Hoffmann ein klarer Fall für die Revision: »Sie können keinem nachweisen, was er gemacht hat oder dass er was gemacht hat - nur dass er irgendwann festgenommen worden ist.«

Auch Beuths Mandanten hat das Gericht allein wegen seiner Anwesenheit am Ort des Geschehens eine »psychische Beihilfe« zum Landfriedensbruch vorgeworfen. Konkrete Vergehen sind auch ihm nicht anzulasten, außer vielleicht, sich seiner unberechtigten Festnahme widersetzt zu haben. Jetzt warten noch 40 Personen aus dem Raum Flensburg auf ihre individuellen Verfahren. Beuth und Hoffmann vermuten hinter dem Prozedere der Justiz eine Strategie. »Sie wollen erst die Auswärtigen aburteilen, um dann die Flensburger mürbe zu machen.«