Abhärtung ist billiger

Ulla Schmidt will die hohen Ausgaben im Gesundheitswesen senken. Auf Kosten der Kranken und sozial Schwachen, ist zu befürchten. von thomas baldauf

Derzeit fordern viele Wissenschaftler und viele Politiker aus der Regierung und der Opposition eine stärkere Privatisierung der Kosten im Gesundheitswesen. Der Einfallsreichtum in der Frage, wie eine solche Privatisierung erreicht werden kann, kennt dabei kaum Grenzen.

Friedrich Schwartz, ein Mitglied des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen, verlangte kürzlich die Einführung einer so genannten Patientenzuzahlung von einigen Euro pro Arztbesuch. Am weitesten wagte sich Bernd Raffelhüschen, Mitglied der so genannten Rürup-Kommission zur Reform der sozialen Sicherungssysteme, hervor, der kürzlich vorschlug, in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eine Selbstbeteiligung der Versicherten von 900 Euro pro Jahr einzuführen. Diskutiert werden auch eine Trennung von Grund- und Wahlleistungen und eine prozentuale oder pauschale Beteiligung der Patienten an den jährlichen individuellen Behandlungskosten.

Obwohl Raffelhüschen zunächst zurückgepfiffen wurde, gelten derartige Maßnahmen als eine Art Wundermittel gegen die vermeintlich ausufernden Ausgaben der Krankenkassen. So könnte man die »Eigenverantwortung« stärken, einen größeren Anreiz für eine gesündere Lebensweise schaffen und die individuellen Wahlmöglichkeiten erweitern.

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) betonte am vergangenen Wochenende, die geplante Gesundheitsreform folge dem Prinzip, die Höhe der Kosten für die Betroffenen in Zukunft davon abhängig zu machen, wie sie sich »im System bewegen«, und nicht mehr davon, wie viel sie verdienen. Hierfür steht sowohl ihr Plan der Einführung eines Gesundheitspasses, auf dem Behandlungs- und Diagnosedaten der Patienten verzeichnet sein sollen und der Doppeluntersuchungen und Fehlbehandlungen verhindern soll, als auch das so genannte Hausarztmodell, nach dem einen Beitragsbonus erhalten soll, wer im Krankheitsfall zuerst seinen Hausarzt und nicht gleich einen Facharzt aufsucht.

Immerhin ist Schmidt eine der Wenigen in der Bundesregierung, die noch für den Erhalt des Solidarsystems eintreten. Doch was sich zunächst recht gut anhören mag, entpuppt sich bei näherem Hinsehen unter dem Gesichtspunkt des sozialen Ausgleichs als schädlich. Ein tragender Pfeiler der gesetzlichen Krankenversicherung ist bisher das Solidarprinzip. Die Höhe der Beiträge zur GKV wird als Prozentsatz vom Bruttolohn berechnet, sodass Menschen mit höheren Einkommen mehr als Menschen mit geringem Einkommen zahlen. Der Anspruch der Versicherten hingegen ist unabhängig von der Höhe der gezahlten Beiträge und umfasst alle Maßnahmen, die für die Behandlung einer Krankheit notwendig sind.

Mühelos aber lassen sich in den Finanzierungsregeln der GKV schon heute Verletzungen des Solidarprinzips finden. So müssen Kranke bereits jetzt manche medizinischen Leistungen teilweise selbst bezahlen, etwa Arzneimittel. Außerdem sind bestimmte Gruppen der Bevölkerung von der Versicherungspflicht befreit. Das betrifft u.a. abhängig Beschäftigte mit einem Bruttoeinkommen von zur Zeit mehr als 3 825 Euro und Selbständige. Sie sind insofern privilegiert, als sie sowieso sozial besser gestellt sind und ihnen gestattet wird, nur ihr eigenes, in der Regel geringeres Krankheitsrisiko zu versichern und sich nicht am solidarischen Ausgleich zu beteiligen.

Durch ihre Abwanderung in die private Krankenversicherung gehen der GKV in erheblichem Umfang Beiträge verloren. Zudem ist kaum einzusehen, weshalb nur die Erwerbsarbeitseinkommen und nicht andere Einkünfte wie etwa Kapital- oder Mieteinnahmen zur Berechnung der Beitragshöhe von Versicherten herangezogen werden.

Die Liste der mit dem Solidarprinzip im Grunde unvereinbaren Merkmale der GKV ließe sich fortsetzen. Aber dennoch zählt sie zu jenen Bereichen sozialer Sicherung, in denen der Trend zur Privatisierung sozialer Risiken bisher einen vergleichsweise geringen Niederschlag gefunden hat. Dafür steht der umfassende Leistungsanspruch im Krankheitsfalle bei einer gleichzeitig einkommensabhängigen Beitragshöhe. Das könnte sich nun ändern.

Denn von der vorgeschlagenen Möglichkeit, sich für einen reduzierten Katalog von Grundleistungen bei gesenkten Beiträgen zu entscheiden, werden in erster Linie die Gesunden Gebrauch machen. Nur aus ihrer Sicht wäre eine Beschränkung der Versicherung auf Grundleistungen akzeptabel. Damit würden dem Solidarsystem aber Finanzmittel vorenthalten.

Für die Kranken würden sich die Beitragssätze bzw. die Kosten der Behandlung erhöhen. So würde nicht nur die Unterstützung der Kranken durch die Gesunden eingeschränkt, sondern auch die Umverteilung von oben nach unten, denn es sind die unteren Schichten, die in überdurchschnittlichem Maße von Krankheiten betroffen sind.

Außerdem ist die Annahme unrealistisch, man könnte die Menschen mit finanziellen Anreizen dazu bewegen, gesundheitsschädliche Lebensgewohnheiten aufzugeben. Alle vorliegenden Untersuchungen sprechen gegen diese Behauptung. Eine Krankheit als Folge solcher Handlungen ist, sofern ein entsprechendes Wissen bei den Betroffenen überhaupt vorhanden ist, lediglich ein mögliches Ereignis in der Zukunft. Hier wird ein Kosten-Nutzen-Kalkül unterstellt, das in der sozialen Realität nicht existiert.

Üblicherweise sind gesundheitsschädliche Verhaltensweisen tief im Habitus und in den Persönlichkeitsstrukturen der Individuen verankert. Zudem stellt gerade die Sucht als besonders extreme Form von Selbstschädigung meist den Versuch dar, mit widrigen Lebensumständen zurechtzukommen.

Die Gesundheit hängt in großem Maße von den Arbeits-, Umwelt- und sozialen Lebensbedingungen ab. Sie unterliegen kaum dem Einfluss der betroffenen Personen. Man denke nur an die Vielzahl der Menschen, die gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen in Kauf nehmen, um den Verlust des Arbeitsplatzes zu vermeiden. Ihnen einen größeren Teil der Kosten aufzuerlegen, bedeutet, sie für ihre soziale Benachteiligung zusätzlich zu bestrafen. Das auch noch mit dem Hinweis auf die »Stärkung der Eigenverantwortung« zu tun, entbehrt nicht eines gehörigen Maßes an Zynismus.

Ungeachtet dessen deutet die Diskussion über die geplante Reform des Gesundheitswesens darauf hin, dass der umfassende Leistungsanspruch der gesetzlich Versicherten eingeschränkt wird. Im Zeichen der Standortkonkurrenz plant die rot-grüne Regierung eine Senkung oder eine Begrenzung der Steuern und Abgaben, den Arbeitgeberbeitrag zur GKV eingeschlossen.

Gleichzeitig dürfte die finanzielle Krise der Krankenkassen vor allem wegen der schwachen Konjunktur bis auf weiteres anhalten. Und die in der medizinischen Versorgung durchaus vorhandene Möglichkeit, kostensparend zu wirtschaften, wird die Ausgaben kurzfristig kaum verringern.

Man darf also gespannt sein, ob die rot-grüne Regierung auch weiterhin an den Grundsätzen einer solidarischen Finanzierung der GKV festhält. Die mit dem Anstieg der Zahl der Arbeitslosen wieder verstärkt geführte Diskussion um die Krise der sozialen Sicherungssysteme deutet darauf hin, dass diese Prinzipien zur Disposition gestellt werden.