Bloß weg hier!

Heute Übach-Palenberg, morgen die ganze Welt. Zwei neue Bücher verhandeln die eigentümliche Beziehung zwischen Pop und Provinz. von frank schäfer

Essenziell für eine »Szene« in der Provinz ist ihre Überlandmobilität. Im Grunde findet sich hier ein Raumgreifen, eine Sehnsucht nach Freiheit, wie man sie von der Beat Generation kennt und die nicht weit enfernt ist von Jack Kerouacs vorgelebter On-the-Road-Ideologie. Entscheidend dabei ist, dass es sich um eine imaginierte Flucht handelt, um den Versuch, durch forciertes Kilometerfressen einem bestehenden Zustand zu entkommen. Um ein Ankommen geht es dabei nicht primär. Nur so ist zu erklären, warum die Landbevölkerung bisweilen mehrstündige Landstraßentrips auf sich nimmt, um zu anderen Dorfdiskos zu kommen, die im Grunde auch nur die verstaubte, silberne Drehkugel über der Tanzfläche, das Western-Imago und den gleichen Top-Ten/Oldie-Mix zu bieten haben, also durchaus nicht mehr als die Disko zuhause.

»Ich komme aus dem Moor«, bekennt Rolf Dieter Brinkmann in seinen Aufzeichnungen »Rom, Blicke«, und gemeint ist das verhasste Vechta. »Ich habe schwarze verkohlte Bahnböschungen hinter mir gelassen, früher Rock’n’Roll darüber geweht, verbranntes Stangenpulver, ein ausgebleichtes Kornfeld im Sommer mit hineingetretenen verwirrenden Gängen, den Geruch von blühender zerriebener Kamille …«

Es geht auch hier nicht ohne Popmusik. Sie ist notwendiger, integraler Bestandteil der provinziellen Landschaft, erfrischender Wind, der in der Enge die Weite immerhin erahnen lässt, der Kosmopolitismus erfahrbar macht, wo sonst nur die Heimattümelei der Alten wäre.

Was Brinkmann über die Fünfziger sagt, bestätigt D. Holland-Moritz für die sechziger und siebziger Jahre. In »Lovers Club. Eine Stimme aus dem Off«, seinen kürzlich erschienenen Erinnerungen an die Solinger Provinz jener Zeit, lässt er noch einmal Revue passieren, »wie abhängig« er und seine Freunde waren, »von Rock’n’Roll, Poesie und Kino«.

Die gute alte Dissidenz des Pop, wie sie bei Brinkmann und Holland-Moritz idealiter in Position gebracht wird, hat in der Provinz durchaus Bestand. Obwohl jüngere Generationen immer stärker mit den Hervorbringungen der Popkultur keine Hoffnung mehr auf wie auch immer geartete gesellschaftliche Veränderungen verbinden. Pop bleibt für sie dennoch der Draht zur großen Welt, ein virtueller Fluchtweg aus kleinstädtischer, respektive dörflicher Tristesse.

Die in den siebziger und achtziger Jahren durch verschiedene Modernisierungsmaßnahmen – den Bau von Autobahnzubringern, Neubaugebieten, Fußgängerzonen etc. – renovierte »neue Provinz« hat ihre idyllischen Qualitäten verloren. »Die neue Provinz ist die hässlichste Landschaft der Welt«, schimpft denn auch Kolja Mensing in seinem jüngst veröffentlichten, zwischen harscher Kritik und liebevoller Empathie hübsch changierenden Essay »Wie komme ich hier raus. Aufwachsen in der Provinz«.

Folglich taugt die Natur, die Landschaft, spätestens seit den achtziger Jahren nicht mehr als integrative Kraft. Ohnehin hätte das in den Schulen antrainierte kritische Bewusstsein nach 1968 eine fraglose Identifikation mit der provinziellen Herkunft nicht mehr so einfach zugelassen. Dieses Bewusstsein diskreditierte schließlich den Heimatbegriff nicht zu Unrecht als Bestandteil nationalsozialistischer Blut-und-Boden-Ideologie.

Das entstandene identifikatorische Vakuum füllen seitdem die Erzeugnisse der Popkultur. Sie schaffen die nötige Nestwärme, machen Kollektivierungsangebote, indem sie Etiketten, Distinktionsmöglichkeiten, Diskussionsstoff liefern, mithin den Humus für die Bildung von peer groups.

Die Popkultur wird zu einer Art Ersatzheimat, und zwar mit einer solchen Suggestivkraft, dass sich ehemalige Provinzler wie Mensing in nostalgischen Momenten »lieber an die Fernsehsendungen unserer Kindheit« erinnern, »als an die Landschaft, in der wir aufgewachsen sind«.

Holland-Moritz versucht in seinem Provinzbuch »Lovers Club« einmal, die Einwohner der Favelas in den Hügeln um Rio de Janeiro als potenzielle gesellschaftliche Avantgarde zu lancieren. Denn bei ihnen, die aus dem Zivilisationsschrott der anderen ihr Leben zusammenpuzzeln, sind Kreativität, Improvisationsgeschick und Pragmatismus existenzielle Notwendigkeiten geworden.

Ein Defizit schafft Verlangen, ist somit Motivation für außergewöhnliche Leistungsfähigkeit. Vielleicht lässt sich das in dieser gerade noch zulässigen Verallgemeinerung übertragen auf die Provinz als solche. Ihr eingeschrieben ist schließlich allemal eine Defiziterfahrung und also auch der Wunsch, diese marginalisierte, gering geschätzte Region um jeden Preis zu verlassen. Diesen Mangel an Herkunft wettzumachen durch Flexibilität, gesteigerte Assimilationsbereitschaft, Durchsetzungskraft und Pragmatismus, mit anderen Worten durch die Übererfüllung des Solls an primär urbanen Tugenden, wird dem Provinzler eingebläut. Und er hat sich das offenbar zu Herzen genommen.

Als der Zeitgeistsoziologe Heinz Bude zum Ende des letzten Jahrtausends infolge des Berlin-Booms und der dazugehörigen Goldgräberstimmung in der »new media«-Branche gleich eine neue, eben eine »Generation Berlin« diagnostizierte, waren damit nicht vornehmlich die Einheimischen gemeint. Diese »energischen und hungrigen Typen«, die Webdesigner, Werbetexter, Journalisten und Popautoren kamen aus allen Landesteilen der Republik, und die sie nach Ansicht Budes kennzeichnende »Ethik des Machbaren« ist gleichsam nur gute provinzielle Schule. Insofern hat Kolja Mensing Recht, wenn er zufrieden mit sich und seiner Generation konstatiert: »Der große Erfolg Berlins in den neunziger Jahren war in Wirklichkeit nur ein weiterer Sieg der Provinz.«

Und noch ein Sieg ist zu vermelden. So jedenfalls könnte man den sich beinahe zu einer literarischen Mode auswachsenden Erfolg der »Zonenkinder« deuten. Jana Hensel, die das hübsche Etikett mit ihrem gleichnamigen Erinnerungsbuch geprägt hat, aber auch die hart an der eigenen Biographie entlangschreibenden Autoren Jakob Hein bis Jana Simon sind Abkömmlinge der einstigen Großprovinz DDR.

Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie bzw. beweist einmal mehr die Dialektik der Geschichte, dass ausgerechnet diese Ostprovinzler sich an die Spitze der sich eine Zeit lang doch sehr weltmännisch gerierenden, mittlerweise etwas abgewirtschafteten deutschen Popliteratur setzen. Sie zeigen sich allesamt inzwischen ehrgeizig, haben die Regeln der freien Marktwirtschaft begriffen und spielen gerne mit. Was sie auszeichnet, ist der selbstbewusste Umgang mit ihrer Herkunft. Sie verleugnen sie nicht, schreiben vielmehr freimütig darüber, erzählen vom Leben und Leiden »am Rand« – und sorgen so dafür, dass die Provinz selbst zum Thema der Popkultur, mithin Pop wird.

D. Holland-Moritz: Lovers Club. Merve, Berlin 2002, 120 S., 10 Euro

Kolja Mensing: Wie komme ich hier raus. Aufwachsen in der Provinz. KiWi, Köln 2002, 180 S., 8,90 Euro