Coming to Hitler’s Paradise

Der Spielfilm »Anansi« von Fritz Baumann schildert den lebensgefährlichen Versuch, aus Afrika nach Europa zu migrieren. von jürgen kiontke

Das Wort »Anansi« bezeichnet in manchen afrikanischen Sprachen eine traditionelle Märchenerzählung. Anansi, das lehrt uns der gleichnamige Film mit dem Untertitel »Der Traum von Europa« auch, ist die große weiße Spinne oder vielleicht auch die weise Spinne. »Anansi betrachtet unsere Welt mit fremden Augen«, teilt uns der Regisseur Fritz Baumann über seinen Film mit, und das ist dann wohl wörtlich gemeint. Gemeinsam mit dem Kriegsflüchtling Zaza (George Quaye), Baumanns Kamera und einer großen Spinne sitzen wir in Zazas Zimmer und sehen die Welt aus der Sicht der Spinne, die viele Augen hat. Sie bietet uns die Perspektive der Flüchtlinge, die ins gelobte Land Europa wollen, der russischen Seefahrer, der marokkanischen Beduinen, der spanischen Gemüsebauern – und auch die Perspektive der Staatsmacht. Die weise Spinne kennt die Geschichte eben von allen Seiten, und wir müssen die Augen eigentlich nur aufmachen.

Baumanns erster Spielfilm ist in jeder Hinsicht bemerkenswert. Der Preise absahnende Afrika-Dokumentarfilmer erzählt von einer Gruppe Westafrikaner, die sich nach Europa durchschlagen. Es ist die Geschichte Zazas, der von Alpträumen über Prügel, Mord und Totschlag, die er im Gefängnis erlebte, geplagt wird, und des mittellosen Fotografen Kojo (Jimmy Akingbola) und seiner Freundin Carla (Naomie Harris). Kurz, knapp und hart wird die Geschichte geschildert. Fast zu kurz. In 80 Minuten hastet der Film durch das Schicksal seiner Helden. Dennoch wirkt das irgendwie angemessen. Für eine Flüchtlingsleiche an der spanischen Küste reservieren die Nachrichten auch nicht viel Zeit. Ein Film also über die, »die noch im Himmel den Donner rollen« (Büchner).

Es ist nicht viel Geld da in dem Dorf, in dem die drei wohnen. Ghana bietet weder politisch noch wirtschaftlich eine Zukunft. Im nächsten Monat sollen sie aus ihrer Wohnung geworfen werden, der Bildkünstler Kojo konnte mal wieder nichts verkaufen. Und um zu wissen, dass es im nächsten Monat nicht anders aussieht, muss man keine weise Spinne sein, da reicht schon der Verstand des Zimmerwirts. Als »Sir« Francis (Maynard Eziashi) mit dem Mercedes und einem Haufen Luxuskram aus Deutschland zurückkehrt, ist der Entschluss zur Auswanderung schnell gefasst.

Sollen sich fröhliche, aber ansonsten ängstliche Menschen auf so eine gefährliche Reise begeben? Und wie wird das Leben in Deutschland aussehen? Carla zögert noch. »Wenn er sich in Europa amüsieren will, würde ich ihm sein bestes Stück abbeißen«, rät eine Freundin Carla. »Es ist besser, mit Geld im Schnee zu sterben, als ohne in der Wüste«, wird ihr gesagt, und: »Weiße Frauen haben keine Seele.« Sie will Kojo nicht allein lassen. »Außerdem kamen die Weißen ja auch ungefragt in die Kolonien«, referiert Sir Francis das Gesetz des ungehinderten Stroms von Waren und Menschen, da könne man ebenfalls Teil der weltweiten Human-Ressources-Strategie sein.

Dass dies kein ungefährliches Unterfangen ist, wird gleich zu Beginn der Reise deutlich. Noch bevor der russische Frachter außer Sichtweite des Hafens ist, ist der erste Reisende schon tot und Carla vergewaltigt. Menschen werden wie Waren transportiert, es wirkt zynisch, ist aber elementarer Bestandteil der Reiseplanung der Paria. Das Transportmittel, das die Flüchtlinge nehmen, ist nicht für die Beförderung von Personen, sondern für den Transport von Waren gedacht. Für den Transfer des Produktivfaktors Billiglöhner von der Peripherie ins Zentrum braucht’s keine Sonderzüge.

So schlägt sich die Gruppe durch auf der Route der Armen, im Gepäck Gewalt, Angst und zu wenig Wasser. Es geht von Ghana über Marokko nach Spanien auf die Plantagenfelder der von der EU geförderten Großbauern in Almeria. Francis verlegt sich aufs Dealen und wird erwischt; nicht ohne die anderen zu verpfeifen. Gemeinsam mit dem Vorarbeiter Adolph (Danny Sapani) fahren sie auf dem Lastwagen ins winterliche Deutschland nach Hamburg. »In Adolf Hitlers schönes Land«, freut sich der Vorarbeiter. »Mein Vater war ein Hitler-Fan, und deswegen hat er mich nach ihm benannt. Denn Hitler bekämpfte die Kolonisten in Afrika. Ohne ihn wären wir immer noch Sklaven.«

Als er Hitlers Paradies dann tatsächlich betritt, wartet auf ihn schon die Ausländerpolizei. Adolph geht gleich hops, Zaza kommt in den Knast zur Abschiebung in das zerrüttete Land, das das Bürgerkriegsopfer verlassen hat. Als Flüchtling gilt der Mann aus Ghana nicht, schließlich »hat unsere Regierung Beziehungen«, wie der Polizist erklärt, »bleiben Sie doch bitte ruhig.« Dass die freie Zirkulation auf dem Warensektor ganz gut funktioniert, müssen indes Carla und Kojo erfahren. Als sie durch Hamburgs Edelpassagen laufen, kommen sie an einer Galerie vorbei, in der gerade eine Vernissage stattfindet. Ernst ist das Leben, heiter die Kunst. Kojos Bilder waren schneller an der Alster als er selbst. Die Fotografien haben vorläufig ein besseres Zuhause gefunden als ihr Schöpfer, er haust mit seiner Freundin als Illegaler in einem Abrissschuppen.

Die Spinne hat eben überall ihre Netze gewebt. Mit dem Wort »Anansi« wird auch der Charakter des gewandten Insekts betont, die Spinne als Allwissende, als Trägerin von Erinnerung, die auch Geschichten spinnt: in der »Anansi-Geschichte«. Und so funktioniert auch Baumanns Film, die Erzählung von Reise, Wanderung, wirtschaftlicher und individueller Perspektivlosigkeit. Selbst die Dreharbeiten wurden von diesen Bedingungen geprägt. Baumann berichtet, dass die Schauspieler in einem marokkanischen Dorf einmal fast gesteinigt worden wären, weil man sie für echte Flüchtlinge hielt. »In Südspanien gab es laufend Passkontrollen und anonyme Anzeigen.«

Es handelt sich hier nicht um ein völlig neues, aber doch um ein anderes Kino, das mit kleinem Budget und internationaler Starbesetzung und einem Titelsong des jamaikanischen Plattenmillionärs Shaggy dokumentarisch erzählt. Ansätze des Migrationskinos in Deutschland gab es zwar in den vergangen zehn Jahren immer wieder. Das Genre wurde jedoch vom deutschen Beziehungskino ausgebremst. Dabei könnten Filme wie »Anansi« zu einem Bewusstsein in Sachen Ein- und Auswanderung im Allgemeinen und Ausländergesetze im Speziellen beitragen. Wer sich hinter den Meldungen über zu Tode gekommene Flüchtlinge auf der Straße von Gibraltar verbirgt, zeigt der Dokumentarist Baumann jedenfalls knapp, aber präzise.

Das Thema Migration wird schon im Februar im ganz großen Stil abgehandelt. Dann kommt »Gangs of New York« ins Kino, Martin Scorseses Film über (Des-) Integration am Beispiel ethnischer Gruppen in den USA der 1850er Jahre. Zu hoffen bleibt, dass hinter den Gesichtern Leonardo DiCaprios und Cameron Diaz’ der Zusammenhang von Kapitalismus und Migration sichtbar wird. Damals reiste man übrigens noch mit Charterschiffen.

»Anansi« (D 2002). R: Fritz Baumann;

Start: 23. Januar

Mehr zu Migration im Film unter www.idaev.de/Film_Video1.htm und www.migration-online.de/film_all_seq.html