Entropipi

Literatur: William Gaddis’ »Das mechanische Klavier«

Ob im Kunstbetrieb (»Die Fälschung der Welt«), im Wirtschaftsleben (»JR«), in der Ehe (»Die Erlöser«) oder im Rechtssystem (»Letzte Instanz«) – William Gaddis hat dem gesellschaftlichen Gespräch, das oft genug als Geschwätz daherkommt, viel Platz in seinen Romanen gegeben. Seine Figuren sprechen fast ununterbrochen, sie reden aufeinander ein, ohne zuzuhören, sie quasseln ohne Anlass und Thema, sie faseln sich um den Verstand, sie äußern sich auch dann noch, wenn niemand mehr da ist. Es entsteht ein Stimmengewirr der Nichtigkeiten, ein Palaver des Alltags, das gleichermaßen grotesk wie bedeutend ist.

In Gaddis’ letztem Roman, der zum Nachlass des vor knapp fünf Jahren verstorbenen Autors gehört und der nun in deutscher Übersetzung vorliegt, spricht hingegen nur noch einer. Ein namenloser, vom Alter und von schweren Krankheiten geplagter Schriftsteller hält einen Monolog. Er wird sterben und will vorher noch sprechen, und so spricht er, von der ersten bis zur letzten Seite, ohne ein Gegenüber, ohne Unterbrechung. Sein erstes Wort ist »Nein«, sein letztes »war«. Viele Sätze speisen sich aus dem Hass über den angeblichen Untergang der Kunst.

»Wann fing es an, richtig schief zu laufen?«, fragt er und gibt auch gleich die Antwort: während des amerikanischen Bürgerkrieges mit der Erfindung des mechanischen Klaviers, eines zu Beginn des letzten Jahrhunderts verbreiteten Unterhaltungsgeräts; Radios, Fernseher, Daddelautomaten und Computer konnten nach und nach folgen. Mit dem mechanischen Klavier werden »die Höhen der Kultur überrannt von den hirnlosen Massen, das Gesindel bemächtigt sich des Allerheiligsten«, tobt der Kranke. »Entropie, alles eine einzige Scheiß-Entropie.«

Sumpf und Abgrund, wohin der Dichter blickt, geklonte Schafe, der Verfall der Sprache, die »Calliope«-Dampforgel, korrupte Anwälte, demokratische Kunst, dazwischen platzt sein Urinbeutel, das Krankenhemd scheuert und die Medikamente beeinträchtigen das Lesen, alles ein »Abgrund von Sumpf«. Der Schriftsteller spricht, worüber er schreiben wollte, er faselt und schwätzt, was ein Teil seines Werkes hätte sein können, er verliert sich im Kleinen wie im Großen, will notieren und spricht doch nur wieder. Ob er will oder nicht, er bleibt authentisch. Er erzählt. Er allein.

Nur durch ihn und aus ihm sprechen andere: Freud, Bernhard, Platon, Wagner, Melville, Hawthorne, Beethoven, Valéry, Tolstoi, Pynchon, Benjamin, Gould, Flaubert, Nietzsche u.v.m. Sie werden als Kombattanten der Kunst in Stellung gebracht, rund um das Geld, die Technologie, die Lust und das Schöne argumentieren sie, reaktionär und fortschrittlich, affirmativ und subversiv.

Trotz des Monologes ist es also wieder das gesellschaftliche Geschwätz, diesmal zwar gebildet und im kleineren Maßstab, aber immer noch das Gequassel aller gegen alle. Am Ende gewinnen Nietzsche und der Flügel; Tolstoi und die Flöte verlieren. So entschieden und gerecht kann postmoderne Literatur sein.

»Verdammt, hier geht mir die ganze Argumentation auseinander, Hauptsache, ich bringe es irgendwie hinter mich«, sagt der Schriftsteller zum Schluss. Wer spricht, ist noch nicht tot.

maik söhler

William Gaddis: Das mechanische Klavier. Manhattan Verlag, München, New York 2003, 128 S., 16 Euro