Was tun mit Aikido und Antifa?

In Robert Bracks Krimi »Lenina kämpft« stapft eine jugendkulturresistente Anti-Heldin durch die Politszenen von Hamburg. von alfred hackensberger

Krimis sind oft meine letzte Rettung, nach einem miesen Tag, nach einer versoffenen Nacht oder einfach bei schlechtem Wetter. In Tanger hole ich mir den kostbaren Lesestoff in der »casa barata«, einem Sieben-Tage-Flohmarkt, auf dem man vom Motorrad über Secondhand-Klamotten bis zur gebrauchten Rasierklinge alles bekommt. Für rund 30 Cent das Stück finde ich meist halb verblichene und teilweise schon angeschimmelte Goldmann- oder Heyne-Krimis aus den fünfziger und sechziger Jahren. Gekauft wird nach Cover, das möglichst reißerisch und kitschig zu sein hat. Da bin ich wirklich wählerisch. Vielleicht liegt es am Alter, aber die Bildungsbeflissenheit habe ich längst aufgegeben. Wissen ist bekanntlich Macht, und die trägt mehr zur Dummheit denn zur Klugheit bei. Da ist mir ein revanchistischer US-Krimi aus den fünfziger Jahren, z.B. Mickey Spillane, lieber als ein so genanntes gutes Buch, das man unbedingt gelesen haben muss, oder ein »aufklärerischer« Krimi, der so hölzern gedeichselt daherkommt. Mancher wird jetzt sagen: »Der sucht doch nur die heile Welt«, die im traditionellen Krimi in der Regel auch apostrophiert wird. Die Welt kommt durch ein Verbrechen in Unordnung und der Held bringt alles wieder ins Lot. Der Leser kann sich am Ende zurücklehnen und sich sicher sein, »ja, da draußen ist jemand, der schon alles regelt. Nur keine Panik!« Vielleicht entspricht das tatsächlich meiner Sehnsucht, wer weiß? Aber diese Grundstruktur ist bei allen Krimis nun mal gleich, egal wie gebrochen die Figur des (Anti-) Helden auch sein mag.

Jetzt habe ich einen neuen Krimi entdeckt. Was heißt entdeckt? Ich habe schon darauf gewartet, dass von Robert Brack endlich wieder etwas Neues erscheint. Ganze sechs Jahre hat es von seinem letzten Krimi, »Nachtkommando« (1997), bis zum neuen, »Lenina kämpft« (2003), gedauert. Und das Warten hat sich gelohnt. Das Buch hat alles, was einen hervorragenden Kriminalroman ausmacht, und sogar noch ein bisschen mehr. Es ist ein verdammt guter Roman, was man von vielen Krimis normalerweise nicht behaupten kann.

Lenina, die Hauptfigur, ist zwanzig Jahre alt, hat den ersten Dan in Aikido und den Namen vom stalinistischen Papa, der eines abends tot aus dem Wasser gefischt wird. Im Gegensatz zur Polizei glaubt das junge Mädchen nicht an einen natürlichen Tod, sondern an einen kaltblütigen Mord. Schließlich war Papa Privatdetektiv. Lenina übernimmt kurzerhand die Detektei und macht sich auf die Suche nach dem Mörder. Dabei stößt sie unerwartet und völlig unvorbereitet in ein Wespennest politischer Korruption. Handlungsort des Kriminalromans ist Hamburg, dementsprechend das Lokalkolorit: Freihafen, Reeperbahn, Karolinenviertel, Ottensen. Diese teilweise von Klischees überstrapazierten Orte werden vom Autor so emotionslos und unprätentiös geschildert, als würde er bei der telefonischen Stadtplanauskunft arbeiten. Umso mehr trifft dieser Minimalismus ins Schwarze. Da fühlt sich sogar einer wie ich, der mehrere Jahre in Hamburg gelebt hat, nach einigen wenigen Zeilen ganz heimisch. »Wandsbek-Markt ist eine Ecke, wo viele hingehen und niemand bleiben möchte. Verkehrsknotenpunkt mit Einkaufsmöglichkeiten in Geschäften, die alle das Gleiche anbieten. Ich ignorierte das Rumgeschiebe auf dem Bürgersteig, nachdem ich aus dem Untergrund über die Rolltreppe ans Tageslicht kam, und machte mich auf die Suche nach der kleinen Seitenstraße namens Gartenstieg.«

Besonders gelungen ist auch, wie die Parallele zur aktuellen politischen Situation in Hamburg gezogen wird. Die DPO, die Deutsche Partei für die Ordnung, und ihr Vorsitzender Herr Schaller sind im Buch die Hauptverantwortlichen für Verbrechen und Korruption. Auch hier verzichtet Robert Brack auf Überzeichnungen, auf eine billige Schwarzweißmalerei und überlässt alles den Ereignissen und damit dem Leser die Wertung. Man kann sich vorstellen, wie schwer ihm das bei Schill und seinen Rechtsgenossen gefallen sein muss. Eine Passage, die auf die Koksleidenschaft des Hau-Drauf-Innensenators von Hamburg anspielt, musste ich zweimal lesen, bevor ich sie kapierte: »Wir hörten ein lautes Posaunen. Schaller putzte sich die Nase in der Gästetoilette, auf deren Tür die Buchstaben W und C von einer herzförmigen Blumengirlande umringt waren. Dann ging die Tür auf und er trat mit hochrotem Kopf heraus. Mir kam es so vor, als wären die Augenringe schlagartig verschwunden.«

Lenina kämpft tatsächlich einige Male, nicht gegen die böse, korrupte Welt, sondern nur im Aikido, und verliert dabei auch noch meistens. Sie folgt ihren persönlichen, familiären Interessen, den Mord an ihrem Papa aufzuklären. Den großen Kampf gegen das Establishment führt im Buch eine straff organisierte Antifa-Gruppe, die ihr logistisches Zentrum natürlich im alternativen Karolinenviertel hat. Phillip, der Kopf der Politgruppe, konnte Lenina nie zum Beitritt in die Organisation überreden, steht ihr aber trotzdem immer hilfreich zur Seite. Obwohl ihm obendrein auch noch seine eifersüchtige Freundin Nadine im Rücken sitzt. »Vielleicht wollte Nadine mich ja auch deshalb nicht zum Kampf gegen die Globalisierung überreden, weil ich dann noch mehr Grund hätte, mich mit Phillip zu unterhalten. Nadine war ziemlich streng mit sich. Sie trug ihr blondes Haar fast immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie verausgabte sich total im Kampf für eine gerechtere Welt. Vielleicht lags daran, dass sie aus großbürgerlichem Haus kam und irgendwelche Gewissensbisse hatte. Philipp kam aus Süddeutschland und der einzige Konflikt mit seinem Elternhaus war, dass er Vegetarier war und sein Vater Schlachter.«

Die ironisch-kritische Distanz des Autors zu den Politaktivisten seines Buches ist offenkundig. Aber die Kritik und die Ironie sind präzise und differenziert und gleiten nie in Häme und Zynismus ab. Ähnlich wie den Antifas ergeht es den Hiphoppern, Tekknos und Chill-Outern. »Vor dem Hauptquartier der Buddah Inc. lungerten ein paar Hip-Hopper in XXL-Baggy-Jeans herum, die rechten Füße cool auf den Außenristen gestellt. Da sie mit der ›Electronic Shiva Dimension‹ der Techno-Buddhisten nichts an der Basecap hatten, waren sie hier wohl nur aus Provokationslust aufgetaucht. Wollten den Neo-Hippies mal zeigen, wer die größeren Hosen anhat oder so was.«

Lenina stapft durch verschiedene (Jugend-) Szenen in Hamburg, immer auf der Suche nach den Mördern ihres Papas. Sie selbst ist jugendkulturresistent, bekommt im Chillout-Morgengrauen Verfolgungswahn, weil jeder, den sie trifft, ihr einen Joint unter die Nase hält. Sie ist ein Fan von längst verwesten Pop-Idolen vergangener Jahrhunderte wie Schubert, Beethoven, Wagner, Mahler, Schönberg, und die Simplizität von Techno-Beats und Trance-Gewaber ödet sie ziemlich an. Sonntagmorgens findet man sie in der Musikhalle und nicht im Bett. Die Political Correctness kennt sie von ihrem stalinistischen Vater, der ihr zum 16. Geburtstag die Mao-Bibel schenkte und alte Exemplare der Roten Fahne aufbewahrte, zur Genüge und das alles hängt ihr zum Hals raus. Sie sitzt zwischen allen Stühlen, und das macht sie zu einer ebenso aktuellen wie sympathischen Figur. Der Wiedererkennungseffekt dürfte bei vielen Leuten, die nicht an die großen Verbindlichkeiten glauben, sehr hoch sein.

Lenina tut eigentlich nicht viel, sie ist absolut nicht Herrin der Lage. Eher Reflex als eine aktive und dominante Figur, die der Welt ihren Stempel aufdrückt, wie sonst normalerweise in Detektivgeschichten vorexerziert: der harte Kerl, der das Rätsel löst und omnipotent die ganze Welt besiegt. Lenina ist bei ihrer Arbeit auch nicht sehr erfolgreich: Sie lässt einen Einbrecher in ihre Detektei entkommen; sie schleicht sich in das Büro der Deutschen Partei für die Ordnung und wird dabei ertappt; sie schläft mit einem Mann, der später ermordet wird; und sie bezieht regelmäßig Prügel bei Auseinandersetzungen mit ihren Gegnern. Sie ist, gemessen an den üblichen Krimischablonen, alles andere als eine Heldin. Trotzdem kommt sie ans Ziel. Nicht allein, sondern mit Hilfe anderer.

Wahrscheinlich ist es das, was die junge Dame so sympathisch, so menschlich macht. Sie taugt nicht einmal zum klassischen Anti-Helden, dem abgewrackten, subkulturellen Privatdetektiv, der einsam und verbissen gegen seinen Alkoholkonsum und den Rest der Welt kämpft. Im Scheitern bleibt Lenina Siegerin. Das hat nichts mit weiblicher Psychologie oder anderen Schubladen zu tun, sie ist einfach nur ein Mensch, der das macht, was er richtig findet, dabei einmal mehr, einmal weniger Glück und dazu einige, wenige Freunde hat. Fast wie im richtigen Leben, könnte man sagen. Trotzdem sollte man sich besser an die editorische Notiz des Buches halten, »dass es im Leben wie im Leben zugeht und nicht wie im Roman«. »Lenina kämpft« ist ein wohlgeordnetes Konglomerat aus Versatzstücken der Realität und des Kriminalromans, leicht philosophisch und pseudophilosophisch, locker wie lakonisch zusammengebastelt. Ein kleines Juwel, selbst wenn sich das pathetisch anhört. »Er lag da wie abgeladen. Wachsweiß im Gesicht und an den Händen. Die Kleider durchnässt. Wie immer die Haare zu lang. Er würde sich mal wieder ganz schlimm erkälten, wenn er sich nicht sowieso schon den Tod geholt hätte.«

Robert Brack: Lenina kämpft. Edition Nautilus, Hamburg 2003, 192 S., 12,90 Euro