Die gelbe Gefahr

Von der Beschwichtigungspolitik zur Panik: Die Krankheit Sars bedroht die soziale Stabilität in der Volksrepublik China. von volker häring

Als die Hysterie um die Krankheit Sars gerade erst entstand, trat ein Hongkonger Arzt vor die Presse und behauptete, Sars werde von Kakerlaken übertragen. In zwei Jahren könnten allein in Hongkong sechs Millionen Menschen angesteckt werden, berichtete anschließend Spiegel-Online. Das war Anfang April.

Zwar wurde die Kakerlaken-Hypothese ein paar Tage später als Unsinn entlarvt, die erste Panik war jedoch erzeugt worden. Und in diesem Stil ging es weiter. Die Bezeichnung »tödliche Lungenseuche« hat sich der relativ geringen Sterbequote zum Trotz in den Medien festgesetzt. Täglich werden neue Horrorzahlen gemeldet, und der Schuldige ist ein alter Bekannter: die chinesische Regierung.

Die Meldung über die Entdeckung des Erregervirus ging ebenso unter wie die Entfernung Vietnams von der Liste der betroffenen Gebiete. Eine Reisewarnung für China gab das Auswärtige Amt nie heraus. Nichtsdestotrotz wurde in fast allen deutschen Medien entsprechend berichtet. Die Schulen in Hongkong und Kanton wurden Anfang letzter Woche wieder geöffnet. Auch das ist keine Nachricht wert.

Doch nicht nur die westlichen Medien machen es schwierig, Gerüchte von der Realität zu unterscheiden. Die chinesische Bevölkerung, die lange Zeit gelassen reagierte (weil sie über Sars nicht informiert war), wurde von der Veröffentlichung der Infektionszahlen in Peking Mitte April schockiert.

Seither gibt es noch mehr Gerüchte. Von Millionen Infizierten ist die Rede und von der Abriegelung ganzer Regionen und der Verhängung des Kriegsrechtes in Peking. Auch wenn sich nichts davon als wahr erwies, wurde es in den westlichen Medien begierig kolportiert und kehrte über BBC, CNN und das Internet wieder in die chinesische Öffentlichkeit zurück.

Hier die bisher bekannten Fakten: Am vergangenen Wochenende waren nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 5 700 Menschen in aller Welt mit dem Virus infiziert, es gab bisher 400 Todesfälle und 2 500 Patienten wurden als geheilt aus den Krankenhäusern entlassen. Auf die Volksrepublik China entfielen 3 500 Erkrankungen, 160 Tote und 1 350 als geheilt Entlassene. Ein Großteil der Erkrankungen findet sich in der Hauptstadt Peking (1 400) und der Provinz Guangdong (1 300).

Zum Vergleich: Im Durchschnitt sterben allein in Deutschland jährlich 3 000 Menschen an den Folgen einer Virusgrippe. In den USA sind es 60 000. Warum also wird Sars als die neue Geißel der Menschheit dargestellt?

Ein Grund, warum gerade diese Krankheit die Panikphantasien anregt, ist in der Tatsache zu suchen, dass sie ihren Ursprung in China hat. Hier wird eine gesellschaftliche Urangst angesprochen, die spätestens seit Kaiser Wilhelms Rede vom Anfang des 20. Jahrhunderts zu den populären Mythen zählt: die gelbe Gefahr. Nur dass sie diesmal nicht in Gestalt mongolischer Reiterhorden, sondern als kleiner unsichtbarer Krankheitserreger daherkommt.

Der zweite Grund ist politischer Natur. Mit Sars haben die Kritiker Chinas ein effektives Instrument in die Hand bekommen, die Volksrepublik wieder einmal an den Pranger zu stellen.

Das hat sich die chinesische Regierung zum Teil aber selbst zuzuschreiben. Während die Provinzregierung in Guangdong intensiv mit der WHO bei der Bekämpfung von Sars kooperierte, wurde der erste offensichtliche Sars-Fall in Peking Anfang März wegen des gleichzeitig in der Hauptstadt stattfindenden Nationalen Volkskongresses geheim gehalten. Die Amtsübernahme der neuen Regierung unter Hu Jintao sollte weiter im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen (Jungle World, 14/03).

Erst nach Wochen der Verharmlosung gab die chinesische Regierung Mitte April dem internationalen Druck nach und erzeugte das, was sie mit der Beschwichtigungspolitik zuvor zu verhindern suchte: Panik in der Bevölkerung. Und schon werden Stimmen im In- und Ausland laut, die den derzeitigen Vertrauensverlust der chinesischen Regierung mit der Zeit nach den Ereignissen von 1989, als Proteste der Studenten blutig niedergeschlagen wurden, gleichsetzen.

Auch wenn dieser Vergleich das Ausmaß und die Folgen des Massakers von 1989 verharmlost, wächst das Misstrauen zumindest im am stärksten betroffenen Peking, was der gerade erst zwei Monate amtierenden neuen chinesischen Regierung hart zusetzt. Kaum etwas kann sie sich weniger leisten als einen Vertrauensverlust der ohnehin skeptischen Bevölkerung.

Bedenkt man, dass nach vorsichtigen Schätzungen der WTO die Auswirkungen von Sars das chinesiche Wirtschaftswachstum um ein bis zwei Prozent verringern werden, so steht der Volksrepublik nicht nur eine politische, sondern auch eine wirtschaftliche Krise bevor.

Eine weitere Störung des ohnehin fragilen sozialen Gleichgewichts wäre die unvermeidliche Folge. So erstreckt sich das Misstrauen der chinesischen Bevölkerung nicht nur auf die eigene Regierung. Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur. Unter Intellektuellen wird darüber diskutiert, dass es sich bei Sars um eine biologische Waffe der USA handeln könnte, um China angesichts der gespannten Lage in Nordkorea als maßgebliches Hindernis einer Invasion zu schwächen.

Dabei wären solch drastische Maßnahmen gar nicht nötig. Die westlichen Medien waren wesentlich effektiver. Denn ohne Sars verharmlosen oder Verschwörungstheorien bestätigen zu wollen, ist Skepsis angebracht. Warum wurde Toronto nach starken Protesten der kanadischen Regierung nach nur einer Woche wieder von der Liste der Reisewarnungen genommen, nicht aber Guangdong, das nach Angaben der WHO im Umgang mit der Krankheit vorbildlich ist und wo die Lage seit Wochen unter Kontrolle scheint?

Für die VR China ist Sars jedenfalls weniger ein medizinisches als vielmehr ein soziales und wirtschaftliches Problem, dessen Ausmaß die Stabilität des Landes bedroht. Die westlichen Medien sind an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig.