Die Erziehung des Blicks

Inwieweit Kunst und Strafe sich gegenseitig bedingen, erklärt ein neuer Sammelband. von ines kappert

Was hat Strafe mit Kunst zu tun? Und was Kunst mit Strafe? »Seit Januar 1999 stellen Gerichte in New York den Verurteilten bei kleineren Vergehen zur Wahl, ihre Fehlsozialisation durch einen Gefängnisaufenthalt oder einen Besuch in der Oper, im Theater oder Museum auszugleichen.« Mit diesem Hinweis lassen die HerausgeberInnen den Sammelband »Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung« erfreulich gegenwartsorientiert beginnen. (Den Beleg für die geschilderte neue Praxis bleiben sie allerdings schuldig.) Dabei sind sie grundsätzlich nicht der Ansicht, dass die New Yorker Richter die schöne Kunst mit ihren kulturfreundlichen Umerziehungsmaßnahmen unzulässigerweise instrumentalisierten, sondern wollen vielmehr aufzeigen, dass Kunst und Strafe sowie Strafe und Kunst von je her in engster Verbindung stehen.

Dass Strafen sich schon seit mindestens den Römern an ästhetischen Standards orientiert und die Bestrafung eines Delinquenten entsprechend fürchterlich gut auszusehen hatte, ist bekannt. Schließlich sollte ein interessiertes Publikum zum ordentlichen Subjekt erzogen werden. U.a. Michel Foucault hat die Verbindung von Strafen und Spektakel in seinem berühmten Buch »Überwachen und Strafen« herausgearbeitet: Bis Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Sühnung von Verbrechen im öffentlichen Raum regelrecht und spektakulär inszeniert. Enthauptung für den Adel, Strangulierung für das gemeine Volk. Verbrennung für Blasphemie, das Rad für besonders schändliche Verbrechen wie schwere Vergewaltigung oder Kindesmord.

Die meist sehr grausame Bestrafung des Körpers sollte die durch den Gesetzesübertritt verletzte oder mindestens provozierte Macht des Souveräns wieder herstellen. Der König oder Kaiser repräsentierte seine »gottgegebene« Regierungsgewalt durch die Verwaltung und Spektakularisierung des Todes seiner Untertanen. Das heißt: Er veranstaltete Volksfeste der Gewalt am ungehorsamen Körper. Diese verbanden sich mit christlichen Reinigungsphantasien: »Zunge ist raus. Die Seele ist rein«, fasst Georg Witte die in dieser Tradition stehende Praxis der mittelalterlichen »Halsgerichte« zusammen. Die der Exekution vorausgehende Folterung sollte den Teufel austreiben und die Seele reinigen. Und zwar sowohl die des Straftäters als auch die des Publikums. Während das gewünschte Resultat auf Seiten des Verbrechers im Tod oder in der Verstümmelung, d.h. der irreversiblen physischen Markierung bestand, sollte die Säuberung vom Bösen bei den Schaulustigen durch Erschütterung bewerkstelligt werden. Damit wären wir bei der schon in der Antike viel gerühmten Katharsis, die Aristoteles und nach ihm viele, viele andere als Ziel des Theatererlebnisses festgeschrieben haben.

Auf einer etwas abstrakteren Ebene, das führt der Soziologe Alois Hahn in einem sehr schönen Beitrag aus, bedarf die Strafe der Kunst der Darstellung, weil sie, will sie gerechte Strafe sein, sich immer auf eine vorangegangene Tat beziehen muss. Daraus folgt, dass die Vergangenheit wieder ins Gedächtnis gerufen, also für alle Beteiligten überzeugend dargestellt werden muss. Nur so ist die Angemessenheit der Strafe für alle Beteiligten sichtbar zu machen. Den Obrigen bzw. der Exekutive obliegt es zu zeigen, »warum vieles andere vergessen werden muss und bislang Vergessenes von nun an das Einzige ist, das nicht vergessen werden darf. Das ist der Anspruch, den Strafe erhebt. Gerade weil sie ›einschneidend‹ ist, versteht sie sich nicht von selbst.«

Ohne die in die Strafe eingebettete Kunst der Darstellung kann sich erstere und damit der Souverän oder Staat keine soziale Anerkennung sichern. Damit ist die Praxis der Kunst, so die These, als Legitimationshilfe für Strafverfahren unentbehrlich. Heute hat die öffentliche Gerichtsverhandlung den Akt der Bestrafung ersetzt, wenigstens in Europa. Denn in dem Moment, in dem die Umerziehung des Delinquenten zum nützlichen Bürger im Vordergrund steht und nicht mehr die durch Grausamkeit reflektierte Allmacht des Herrschers, indem also die Macht, wie Foucault schreibt, in der Beherrschung des Lebens, sprich der Disziplinierung der Bürger eines Staates besteht, findet das Legitimations-Spektakel im Gerichtssaal bzw. in der Spurensuche statt.

Das geradezu wahnwitzige Interesse an der Übertragung der Gerichtsverhandlung beispielsweise von O.J. Simpson ebenso wie die zahllosen Gerichts- und Kommissarfilme beweisen diese Verschiebung. Den Umstand, dass derzeit zumindest in den USA das Interesse an der Partizipation an Hinrichtungen wächst, lässt der Band leider unreflektiert. Zwar erwähnt er etwa den Rechtsstreit von 2001 um die Live-Übertragung der Exekution von Timothy McVeigh im Internet zu 1,95 US-Dollar, bindet ihn aber nicht weiter in seine Erörterungen ein. So bleiben verwaiste Verweise auf die Gegenwart; Appetithäppchen zur Verzierung manchmal nicht ganz einfacher akademischer Kost, die leider oft grobschlächtig mit der Nennung von Kontinenten und Jahrhunderten verfährt. Dennoch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, lohnt es sich, immer weiter zu lesen.

Und so stellt sich nun umgekehrt die Frage: Bedarf die Kunst der Strafpraktiken?

Historisch gesehen: ja. Die Malerei zum Beispiel hat viel handwerkliches Wissen aus den öffentlichen Exekutionen gezogen. Denn abgeschlagene Köpfe und Gliedmaßen boten sich als ausgezeichnete Objekte für Anatomiestudien an. Insbesondere während der Gegenreformation, also im 16. Jahrhundert, gab die katholische Kirche viele Hinrichtungen in Auftrag: Was lag näher, als den Skizzenblock zur Hinrichtung mitzunehmen? Und auch später, bis ins späte 19. Jahrhundert, wohnten Künstler für medizinische Zwecke unternommenen Sektionen bei, die wiederum vorrangig an Straftätern durchgeführt wurden. Schließlich sollten letztere den der Gemeinschaft zugefügten Schaden wieder gutmachen, indem sie ihren Körper der Forschung zur Verfügung stellten.

Großes Interesse weniger am toten Körper als an der Überführung eines Lebewesens in den leblosen Zustand, zeigte auch das frühe Kino. Wie die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch ausführt, waren Szenen von Hinrichtungen von Mensch und Tier fester Bestandteil seines »Arsenal der Attraktionen«. Dabei, so ihre These, ging es neben der Freude am neuen Medium in erster Linie wiederum um die Erziehung des Blicks der ZuschauerInnen. So sieht Koch in der angeleiteten, also inszenierten Beobachtung der Exekution, von der Antike bis in unsere Tage – siehe Lars van Triers »Dancer in the Dark«–, die, mit Adorno gesprochen, »Urgeschichte der Subjektivität« am Werk. Denn gerade im Umschlag des kalt beobachtenden Blicks in emotionale Anteilnahme am Schicksal des Delinquenten und wieder zurück spiegele sich die Dialektik der Aufklärung wider. Die Barbarei der Zivilisation, wie Adorno und Horkheimer sie anhand der antiken Figur des Odysseus erklärten, besteht in der individuellen Beherrschung der Triebe bei gleichzeitiger kontrollierter Sinnenfreude. So konnte Odysseus den Gesang der Sirenen nur um den Preis über- und damit erleben, dass er sich zuvor an einen Pfahl binden ließ, er also seinem Begehren nicht nachgeben konnte. (Und natürlich dank seiner rudernden Sklaven, deren Ohren vorsorglich mit Wachs verstopft worden waren.) Diesen für das bürgerliche Subjekt grundlegenden Mechanismus der Affektregulierung gelte es immer wieder neu zu erlernen. Und heute übernehme das Kino diese Erziehungsaufgabe – wie auch die Rebellion dagegen.

Wie kein anderer attackierte Pier Paolo Pasolinis Film »Die 120 Tage von Sodom«(Italien 1975) diesen voyeuristischen Blick. Permanent tauschen hier Täter und Zuschauer in diversen Folterszenen die Aufgaben und hauen dadurch dem Filmzuschauer die gemütliche Position »Ich schau’s mir ja nur an« um die Ohren. »Das Quälen und Töten von Körpern muss hier auskommen ohne die Aureole gerechter Strafe, aber auch ohne die Zerdehnung des Sterbens als Akt des Lebens, die in vielen Filmen den Tod an den Kitsch bindet«, so Koch. Wie etwa in »Dancer in the Dark«, ließe sich hinzufügen.

Eine weitere Spielart von Kunst als Strafe bietet der »Moskauer Aktionismus«. Georg Witte wie Sylvia Sasse nehmen sich diesen in den neunziger Jahren in Moskau populären Kunstperformances an. Witte geht es dabei um die Selbstbestrafung der Kunst durch Kunst, sprich Künstler zerstören eigene oder fremde Kunstwerke. Sie übertragen dabei den Strafmechanismus auf die Kunsterfahrung und radieren jede Differenz zwischen ihnen aus. Zumal die der Reversibilität. Während Kunsterfahrung immer wieder neu, das heißt nicht fixierbar ist, zeichnet sich die Erfahrung von Strafe durch ihre Unumkehrbarkeit aus: Ob abgeschlagener Kopf oder 20 Jahre Zuchthaus, diese Erfahrung lässt sich jeweils nicht rückgängig machen. Auch als Aleksandr Brenner 1998 den »Weißen Suprematismus« (1922–27) von Kasimir Malewitsch mit einem grünen Dollarzeichen besprühte, zerstörte er das Kunstwerk in irreparabler Weise. Dass er hierfür zu knapp einem Jahr Zuchthaus verurteilt wurde, schließt wiederum auf eigene Weise den Kreis zwischen Kunst und Strafe.

Gertrud Koch, Sylvia Sasse, Ludger Schwarte (Hg.): Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung. München: Wilhelm Fink Verlag, 2003.