Gespenster am Genfer See

Die Gegenaktivitäten zum Gipfel begannen bunt und laut und endeten mit Tränengas und Knüppeln. von marcel sevy, genf

Ich rechne mit Toten«, zitierte die Zeitung SonntagsBlick den Schweizer Generalstabschef Christophe Keckeis am vergangenen Sonntag, als die erste große Demonstration gegen den G 8-Gipfel beginnen sollte. Einige Tage zuvor hatte die Nachricht für Aufsehen gesorgt, die in Lausanne und Genf eingesetzten Soldaten hätten einen Schießbefehl erhalten.

Dass man auch ganz ohne Waffen Menschen in Lebensgefahr bringen kann, bewiesen Schweizer Polizisten am Sonntagmorgen. Während einer Blockade der Autobahn Genf-Lausanne wollte sich ein Demonstrant aus London gemeinsam mit einer Frau von einer Brücke abseilen. Ein Polizist durchschnitt das Seil. Das Seilstück, an dem die Frau hing, konnten Demonstranten festhalten, der Mann aber stürzte 20 Meter in einen steinigen Fluss. Nach einer mehrstündigen Operation soll er inzwischen außer Lebensgefahr sein.

Die Kritiker der kapitalistischen Globalisierung hatten sich für den G 8-Gipfel in Evian ein hohes Ziel gesetzt. Der Erfolg der Proteste müsse sich daran messen lassen, ob es gelinge, den Gipfel zu verhindern oder zumindest zu stören. Gemäß der Taktik von Seattle sollte nicht, wie in Genua, die »rote Zone« gestürmt, sondern die Anreise der Regierungsdelegationen mit »gewaltfreien, aber effizienten Blockaden und Sit-ins« behindert werden, wie es in einem Aufruf hieß. Gemessen an diesem Ziel, sind die Aktivitäten gegen den Gipfel von Evian gescheitert.

Angefangen hatte alles bereits am Donnerstag. In unzähligen Veranstaltungen und Workshops wurde über verschiedene Facetten der Globalisierung debattiert: die Weltordnung nach dem Irakkrieg, die Kämpfe gegen Kürzungen sozialstaatlicher Leistungen, die »Schuldenerlasskampagne« für die Länder der Dritten Welt. Immer wieder wurde auch die von Jacques Chirac propagierte »Initiative zur Entwicklung Afrikas« thematisiert. Das sei »bloß Rhetorik«, allenfalls handle es sich um ein paar »Brosamen vom Tisch der Großen«, war bei vielen G 8-Gegnern zu hören, und am Samstag spielte Manu Chao im größten Camp. Am Vorabend der Blockaden und der Großdemonstration herrschte also bei sommerlichem Wetter Feststimmung rund um den Genfer See.

Am Sonntagmorgen begannen die Blockaden. Während die Polizei in der Umgebung von Genf Sit-ins auf vier Brücken duldete, an denen sich jeweils 1 200 bis 1 500 Personen beteiligten, kam es rund um Lausanne und das französische Annemasse bereits am frühen Morgen zu Konfrontationen. Die Blockade in St. Cergues, einem Ort zwischen Annemasse und Evian, wurde mit Tränengas und Wasserwerfern aufgelöst. In Lausanne zogen verschiedene Blöcke mit jeweils mehreren hundert Beteiligten zu neuralgischen Verkehrsknotenpunkten. Rund um die Sicherheitszone kam es im Laufe des Morgens zu Auseinandersetzungen. Schließlich drängte die Polizei alle Aktivisten aus Lausanne hinaus und umstellte die Camps der G 8-Gegner. Alle weiteren Demonstrationen an diesem Tag wurden von den Behörden verboten.

Am Vormittag startete die Großdemonstration, auf Schweizer Seite in Genf, auf französischer in Annemasse, ein bunter, lauter und festlicher Umzug, der sich an der Grenze vereinigte. Nach Angaben der Polizei sollen sich daran 50 000, nach Schätzungen der Organisatoren 120 000 Leute beteiligten haben. Die französische Demonstration wurde von Gewerkschaftern angeführt, die zum Generalstreik aufriefen. Am Rande der Demo wurde eine Tankstelle geplündert, was die meisten Demonstranten mit Pfiffen und Buhrufen quittierten. Im Anschluss kam es in Genf, nachdem kleine Gruppen bereits in der Nacht zuvor erheblichen Sachschaden angerichtet hatten, erneut zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die Gummigeschosse und Tränengas einsetzte.

Dass die Bewegung ein Gewaltproblem hat, zeigten nicht nur die enttäuschten Stellungnahmen von Vertretern des Forum sociale lémanique am Sonntagabend. Sie sehen die Bewegung eingeklemmt zwischen der staatlichen Repression und einer dumpfen »Black-Block-Attitüde«, was konfrontative und direkte Aktionsformen zusehends schwieriger mache. Auch eine Stellungnahme von Anarchisten aus dem libertären Genfer Camp geißelte die Eskalation um der Eskalation willen. Sie kritisierte die »unpolitische Gewaltanwendung« einer kleinen Gruppe von Randalierern, die in der Nacht auf Sonntag in Genf Fensterscheiben einschlugen und Ladenlokale mit Molotowcocktails in Brand setzten. Die Krawalle zerstörten nicht nur die Scheiben von Geschäften, sondern die soziale Bewegung.

Indes können es viele Genfer kaum fassen, was in den letzten Tagen aus ihrer Stadt geworden ist. Hotels, Banken und Geschäfte sind hinter Brettern verschwunden, Fahrkartenautomaten wurden abmontiert, die Bankautomaten enthalten kein Geld mehr, viele Angestellte wurden in die Zwangsferien geschickt. Zwar sind viele Barrikaden inzwischen bunt bemalt, dennoch wirkt die Stadt abweisend, gespenstisch.

Daran ändert auch die Willkommensbotschaft nichts, mit der die Genfer Behörden die anreisenden Demonstranten am Bahnhof begrüßten: »Weltoffen teilt man hier Hoffnung, Leid und Herausforderungen im Geiste des Dialogs und des gegenseitigen Respekts. Diese Stadt des Friedens empfängt Sie mit offenen Armen.«

Ein Beweis der Weltoffenheit waren die Polizeihundertschaften aus Deutschland, die vor allem in Genf eingesetzt wurden. In der Nacht von Sonntag auf Montag stürmten Schweizer Polizisten das alternative Kulturzentrum »Usine« in Genf. Auch diese Aktion war ein Ausdruck der Gastfreundschaft der Schweizer Behörden, bei der Silvio Berlusconi Pate gestanden haben dürfte. Wie beim Sturm auf die Diaz-Schule in Genua drangen Polizisten erst nach dem Ende der meisten Aktivitäten in das Gebäude ein, in dem das alternative Internetportal Indymedia sein Zentrum eingerichtet hatte. Die Zivilpolizisten waren teilweise vermummt und setzten Teleskopschläger ein, Augenzeugen berichteten von einem äußerst brutalen Vorgehen. Elf Personen wurden festgenommen und später am Stadtrand ausgesetzt.

Die Demonstration vom Sonntag war wohl die größte, die Genf je erlebt hat. Sie sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mobilisierung geringer ausfiel als angenommen. Am deutlichsten wurde das auf dem Camp »Bout-du-Monde«, das die Stadt eingerichtet hatte. 40 000 Leute hätten dort Platz gefunden, doch am Samstagnachmittag verloren sich kaum mehr als 2 000 auf dem Gelände.

Die Mobilisierung der Globalisierungskritiker sei fehlgeschlagen, schreibt die SonntagsZeitung. Auch Vittorio Agnoletto, Sprecher des Genoa Social Forum 2001, kritisiert: »Im Vorfeld des Gipfels von Evian hat die Kommunikation zwischen unseren schweizerischen und französischen Freunden nicht optimal funktioniert. In Genua hatte die internationale Mobilisierung durch das Genoa Social Forum eine einheitliche Regie.«