Demokratie per Dekret

Acht Jahre nach dem Ende des Krieges ist Bosnien-Herzegowina immer noch geteilt. Für gesamtstaatliche Entscheidungen sorgt allein der Hohe Repräsentant. Von Markus Bickel, Sarajevo

Ganze vier Monate musste Adnan Terzic warten, ehe er das Amt des bosnischen Ministerpräsidenten Anfang Februar antreten durfte. Zwar war seine muslimisch-nationalistische Partei (SDA) schon im Oktober 2002 als eindeutige Siegerin aus den Parlamentswahlen hervorgegangen. Doch das als vetting bezeichnete Kontrollverfahren, das der im Friedensvertrag von Dayton eingerichteten Behörde des Hohen Repräsentanten die letzte Entscheidung über jeden potenziellen Kandidaten einräumt, sorgte dafür, dass Terzic erst im Februar die politische Unbedenklichkeit attestiert wurde.

Bis sein Kabinett komplett war, vergingen weitere sechs Wochen, weil der britische Leiter der Protektoratsbehörde, Paddy Ashdown, mehreren Kandidaten wegen krimineller Vergehen oder nationalistischer Äußerungen in der Vergangenheit die politische Zulassung verweigerte.

Das Amt des Hohen Repräsentanten ist mit Abstand die bedeutendste Institution, die während der Bosnien-Friedenskonferenz auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Dayton/Ohio im November 1995 geschaffen wurde. Seit der Ernennung des ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten Carl Bildt zum ersten ausländischen Gesandten haben bereits vier Diplomaten der EU die Politik des Nachkriegslandes aus dieser Behörde gesteuert und so das Gesamtparlament in Sarajevo sowie die Vertretungen der beiden als Entitäten bezeichneten bosnischen Bundesländer – der muslimisch-kroatischen Föderation und der Republika Srpska – weitgehend marginalisiert.

Weil sich die nach fast vier Jahren Krieg immer noch entlang ethnonationalistischer Linien gespaltenen politischen Kräfte auch auf die grundlegenden staatlichen Symbole nicht einigen konnten, mussten anderthalb Jahre nach dem Kriegsende selbst die Staatsflagge, die Pässe und Autokennzeichen von der Protektoratsbehörde eingeführt werden.

Mit dem Abschied des dritten High Rep, des Österreichers Wolfgang Petritsch, sollte diese Phase externer Herrschaftssicherung im Frühjahr 2002 eigentlich langsam zu Ende gehen. Doch angesichts mangelnder Fortschritte beim Aufbau eigenständiger, in Dayton vereinbarter demokratischer Institutionen und Mechanismen, fällt es den Vertretern der so genannten internationalen Gemeinschaft weiterhin schwer, Kompetenzen an die nationalen Politiker abzugeben.

Von konservativen Think Tanks wie der International Crisis Group verfasste Exit-Strategien sehen inzwischen Zeiträume von mindestens sieben Jahren vor, ehe die internationale Protektoratsherrschaft beendet werden kann. Angesichts derart pessimistischer Prognosen greift der Hohe Repräsentant weiterhin häufig zum letzten legislativen und exekutiven Machtmittel, das ihm nach dem Dayton-Vertrag zusteht. Per imposition (Dekret) kann er jederzeit Gesetze erlassen und Verordnungen aufheben, die von einem der bosnischen Parlamente verabschiedet wurden.

Allein in den letzten 36 Stunden seiner Amtszeit Ende Mai 2002 dekretierte Petritsch 42 Gesetze und Verordnungen, ehe Ashdown den in Dayton ausschließlich EU-Diplomaten vorbehaltenen Posten übernahm. Nach fast drei Jahren an der Spitze der Institution machte Petritsch, der schon für die EU die dem Kosovo-Krieg vorausgehenden Rambouillet-Verhandlungen leitete, an seinem letzten Arbeitstag deutlich, wie weit der Einfluss reicht, der dem High Rep in Dayton zugestanden wurde.

Gleichzeitig zu den mit weit reichenden Eingriffen ins nationale Justiz-, Polizei- und Rundfunkwesen verbundenen Anordnungen entließ er elf Richter und Staatsanwälte; insgesamt zwang Petritsch 70 während seiner Amtszeit gewählte Politiker zum Rücktritt, 146 Gesetze wurden durch impositions des österreichischen Diplomaten erlassen. Im Gespräch macht er kein Hehl daraus, dass er seine »weit reichenden Befugnisse sehr exzessiv genutzt« habe.

Petritschs Nachfolger Ashdown hingegen benutzt den Begriff kaum und spricht lieber von decisions. Gefragt, weshalb er im Gegensatz zu Petritsch darauf verzichte, die Dekrete als das zu bezeichnen, was sie dem Friedensvertrag zufolge nun einmal sind, verweist der Brite auf den kolonialen Charakter, der dem Terminus innewohne, und legt Wert auf den vermittelnden Charakter seines Postens: »Das Verhältnis zu meinen eigenen Machtbefugnissen war immer davon bestimmt, sie, wenn möglich, nur zur Schaffung von demokratischen Strukturen anzuwenden, und nicht, um Entscheidungsprozesse innerhalb dieser Strukturen zu behindern.«

Die rhetorisch geschickte Anmerkung verdeckt die Verlogenheit, die hinter Ashdowns vorgetäuschter Schüchternheit steckt. Mehr als 60 Mal hat der höchste zivile Repräsentant im Land im ersten Jahr seiner Amtszeit bereits Gesetze und Verordnungen per Dekret erlassen. Von Zurückhaltung seines Amtes bei Eingriffen in das politische System des Landes kann also keine Rede sein.

Im Gegenteil, deutet Ashdown doch an, dass es ihm weniger um ein Ende der Marginalisierung der bosnischen Bevölkerung geht als um mehr Einfluss für die EU: »Ich hoffe, dass am Ende meines Mandats die Fahne des Hohen Repräsentanten weggeräumt und jene aufgestellt wird, die jetzt fehlt, die der Europäischen Union.«

Bis dahin aber dürfte es noch ein weiter Weg sein. Denn auch wenn Ashdown als erster Vertreter direkt dem Hohen Repräsentanten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, unterstellt ist, ist Bosnien weit davon entfernt, der ehemaligen jugoslawischen Schwesterrepublik Slowenien auf dem Weg in die EU zu folgen.

Bis zum Jahr 2009, so das Ziel der Regierung Terzic, will man Mitglied der EU sein. In der Protektoratsbehörde hält man selbst 2015 für ein hoch gestecktes Ziel. Angesichts einer Arbeitslosigkeit von mehr als 50 und einer Armutsrate von 20 Prozent rangiert das Land mit vier Millionen Einwohnern im Jahresbericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) auf dem vorletzten Platz unter den zehn Staaten des Balkan-Stabilitätspakts. Nur noch Moldawien landete bei den wichtigsten wirtschaftlichen Indizes hinter Bosnien.

Auch die vergangenen Wahlen haben alle Hoffnungen auf Verluste der ethnonationalistischen Parteien und ein Erstarken der bürgerlichen Kräfte enttäuscht. So holten zwei Jahre nach der von Petritsch geförderten Reformregierung »Allianz für den Wechsel« im Oktober 2002 dieselben Parteien die meisten Stimmen, die das Land vor mehr als zehn Jahren in den Krieg führten: Terzics SDA, die von Radovan Karadzic gegründete Serbische Demokratische Partei (SDS) und der bosnische Ableger von Franjo Tudjmans Kroatischer Demokratischer Gemeinschaft (HDZ).

Schon in den Jahren zuvor hätten sich die verfeindeten Eliten ohne Zutun der Protektoratsbehörde auf kaum eine Entscheidung von gesamtstaatlichen Belang eingelassen, keine guten Voraussetzungen für einen baldigen Abzug der internationalen Vertreter.

In den Friedensverhandlungen vor fast acht Jahren lediglich geschaffen, um dem vielfach horizontal und vertikal geteilten Staatsapparat übergangsweise eine mächtige ausländische Autorität gegenüberzustellen, hat sich die Dekretherrschaft des Hohen Repräsentanten in der Zwischenzeit verselbstständigt. Zwar betont Ashdown immer wieder, dass er der letzte Vertreter der internationalen Gemeinschaft sein werde, der seine Machtbefugnisse zu umfassenden Eingriffen in die Selbstbestimmungsrechte der nationalen Institutionen nutzen werde, doch daran glaubt in Sarajevo eigentlich keiner.

Und auch wenn in kritischen Zeitungen und Zeitschriften wie Oslobodenje oder Dani immer wieder Vorwürfe auftauchen, Ashdown arbeite am Aufbau eines alles beherrschenden Protektorats, scheinen sich die meisten Bosnier mit der Fremdherrschaft arrangiert zu haben. Konservative Kritiker der Übergangsverwaltung führen das darauf zurück, dass das Land über Jahrhunderte hinweg zunächst aus Istanbul, dann aus Wien und später aus Belgrad regiert wurde und der Bevölkerung folglich die für den Aufbau demokratischer Institutionen nötigen Grundvoraussetzungen abgingen.

Aber auch Bosnier, die sich für eine Zivilgesellschaft einsetzen und mehr Einfluss für die lokalen Institutionen fordern, sehen einem möglichen Ende des Protektoratsregimes mit gemischten Gefühlen entgegen. Zu sehr fürchten sie, dass das Land dann wieder ganz in die Hände derjenigen Politiker gerät, die den Krieg vor mehr als einem Jahrzehnt anzettelten. So sehr scheint man sich an die Präsenz der internationalen Verwalter gewöhnt zu haben, dass die Diktatur der Dekrete am Ende als demokratische Kontrollinstanz gefeiert wird.

Viel ändern an der Dysfunktionalität der nominell unabhängigen, de facto aber von internationalen Geldern und Institutionen abhängigen bosnischen Staatsstruktur konnte die Behörde des Hohen Repräsentanten allerdings nicht. Und so dürfte Ashdown wahrscheinlich selbst froh sein, wenn ihm am Ende nur noch ein EU-Diplomat im Amt nachfolgen würde.