Die Bafög-Mafia

Die Öffentlichkeit empört sich über Studierende, die zu viel Bafög bekommen haben sollen. Dabei war schon die Überprüfung fragwürdig und die Kriterien unfair. von tjark sauer

Wer kennt sie nicht, die Bummelstudenten, die den Staat Unsummen kosten? Die Arbeitslosen, die gar nicht arbeiten wollen? Und die Sozialhilfeempfänger, die einen Mercedes fahren? Nach den Meldungen der vergangenen Woche könnten die öffentlich anerkannten Sozialschmarotzer neuen Zulauf bekommen: Zehntausende von Studierenden sollen wegen fehlerhafter Angaben über ihre Vermögensverhältnisse zu Unrecht Bafög eingeheimst haben.

Die Erkenntnisse resultieren aus einer Aktion der Obersten Landesbehörden für Ausbildungsförderung; eine neue Form der Rasterfahndung wurde erfunden. Seit 2001 finden bundesweit Datenvergleiche in den Karteien der Ämter für Ausbildungsförderung statt. Das Ziel der Maßnahme ist eben die Ermittlung von Leistungsempfängern, die über Vermögen verfügen, das bei der Antragstellung nicht oder nicht korrekt angegeben wurde. Und genau das soll bei Zehntausenden von Studierenden der Fall sein. Angeblich wurde bereits ein Gesamtbetrag in Millionenhöhe von ihnen zurückgefordert.

Wer ein Girokonto eröffnet oder ein Sparbuch einrichtet, erteilt der Bank üblicherweise einen Freistellungsauftrag. Denn sie hat dann weniger Arbeit mit dem Abführen der Quellensteuer auf Zinserträge und drängt die entsprechenden Formulare deshalb ihren Kunden in der Regel geradezu auf. Die Freistellungsaufträge werden zentral beim Bundesamt für Finanzen erfasst; die Banken melden jährlich die tatsächlich anfallenden Zinserträge.

Die Daten der Bafög-AntragstellerInnen landen in einem der zentralen Rechenzentren der Länder. Wer Bafög bezieht, darf heute höchstens 5 200 Euro an eigenem Vermögen besitzen. Und inzwischen werden die Bafög-Daten auch mit denen des Bundesamts für Finanzen verglichen; rückwirkend bis ins Jahr 2000. Damals lag die zulässige Vermögensgrenze jedoch – seit 1977 unverändert – bei 6 000 DM.

Den Ergebnissen folgten empörte Reaktionen: »Bafög für Betrüger« oder »Zehntausende Studenten erhielten zu Unrecht Bafög«. Dabei gingen Stimmen unter, die das Vorgehen der Behörden kritisierten. Wer so etwas behauptet, »liegt völlig falsch«, sagte Hans-Dieter Rinkens, der Präsident des Deutschen Studentenwerks, das den Datenvergleich von Anfang an scharf kritisiert hatte. Dieses Vorgehen erwecke »bei den Studierenden den Eindruck, die Studentenwerke hätten von sich aus – ohne dass ein konkreter Anfangsverdacht vorliegt – den Sozialdatenschutz verletzt. Möglicherweise wird hierdurch das Vertrauen zu den Studentenwerken beschädigt. Andererseits muss klargestellt werden, dass die Studentenwerke keinen Missbrauch des Bafög dulden können, aber dieser vollständige Datenabgleich als überzogener Verwaltungsaufwand kein angemessenes Mittel bei einer Verhältnismäßigkeitsprüfung darstellt.«

Auch rechtliche Schritte bleiben nicht aus. In Nordrhein-Westfalen klagt eine Studentin gegen den Datenvergleich, da sie ihr Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt sieht. Trotz rechtlicher Parallelen zum Einkommenssteuergesetz fehlt es nach Einschätzung verschiedener Juristen an der Rechtsgrundlage für die Übermittlung der Daten. Ähnliche Bedenken hatte im September 2002 auch der Datenschutzbeauftragte in Nordrhein-Westfalen geltend gemacht.

Weitere Bedenken erhoben jetzt das Deutsche Studentenwerk und der Freie Zusammenschluss von StudentInnenschaften (fzs). Die Vermögensgrenze sei zu niedrig bemessen worden. Sie wurde erst 2001 auf 5 200 Euro erhöht. »Wenn aber Bund und Länder im Jahr 2000 erkannt hatten, dass der Freibetrag chronisch zu niedrig angesetzt war, ist es unverständlich, warum im Nachhinein diese Grenze (6 000 DM, die Red.) nun Maßstab sein sollte«, so Rinkens. »Der Vermögensfreibetrag von 6 000 DM wurde 1977 festgesetzt; über 24 Jahre gab es keine Erhöhung. Damit waren die Freibeträge so unrealistisch gering, dass selbst Bafög-BeraterInnen häufig nicht ausdrücklich von einer Fehlangabe über die tatsächlichen Vermögensverhältnisse abgeraten haben«, erklärte der fzs vor kurzem in Bonn.

Nach einer Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks sagten im Jahr 2000 weniger als 50 Prozent der Bafög-BezieherInnen, dass sie die Finanzierung ihres Studiums durch das Bafög für gesichert hielten. Die Mehrheit der Befragten verlor vor dem Studienabschluss ihren Anspruch, weil sie die maximale Förderungsdauer überschritten oder Leistungsnachweise zu spät erworben hatten. »Schon den meisten SchülerInnen ist klar, dass sie mit dem Bafög allein nicht über die Runden kommen. Wo das Elterneinkommen nicht reicht, wird oft schon deutlich vor Beginn des Studiums gespart. Schlechte Studienbedingungen und nötige Erwerbsarbeit sorgen für verlängerte Studienzeiten – das weiß in Deutschland jedes Kind«, sagt Heiner Fechner vom fzs-Vorstand. »Die Kosten eines Studiums und die einhergehende Finanzierungsunsicherheit sind für viele Kinder aus bildungsfernen Schichten ein zentraler Abschreckungsgrund. Wenn diesen das Sparen für unsichere Zeiten verboten wird, ohne dass eine sichere Studienfinanzierung bis zum Abschluss garantiert ist, ist eine weitere Erhöhung der sozialen Selektion beim Hochschulzugang vorprogrammiert.«

Die jahrzehntelang viel zu niedrig angesetzten Freibeträge und deshalb realitätsfernen gesetzlichen Anforderungen hätten die scheinbar dramatischen Ergebnisse des Datenvergleichs produziert, und die Rückforderungen träfen, wie auch die öffentliche Empörung, überwiegend die Schwächsten unter den Studierenden, meint der fzs. Das Deutsche Studentenwerk fordert unterdessen zur Differenzierung auf. In allen Sozialleistungsbereichen hätten Datenvergleiche Unregelmäßigkeiten zu Tage gefördert. Aufgrund von Recherchen bzw. Nachfragen bei Studierenden lasse sich in der Regel der Verdacht entkräften.

Der fzs ruft erneut dazu auf, die soziale Rasterfahndung zu beenden und aus den Ergebnissen des Datenvergleichs Konsequenzen zu ziehen. Zunächst müsse eine Erhöhung der Freibeträge auf 5 100 Euro auch rückwirkend für die Jahre vor 2001 beschlossen werden, um unfaire Geldbußen und Strafen zu vermeiden. Dann müssten die Vermögensfreibeträge so angepasst werden, dass mit dem Sparvermögen ein Studium mindestens drei Semester lang weitergeführt werden könne. So ließen sich Studienabbrüche vermeiden.

Klar ist jedoch, dass ein uneingeschränkter Hochschulzugang für viele erst möglich wird, wenn es eine von den Eltern unabhängige, ausreichende staatliche Studienfinanzierung gibt.