Die Offensive der Geister

In vielen Gebieten des Irak haben sich die Ba’athisten reorganisiert, die Angriffe auf US-Soldaten und auf die Infrastruktur nehmen zu. von thomas uwer, bagdad

Geister nannte man die Spitzel des Ba’ath-Staates im Irak. Nicht weil sie unsichtbar waren, sondern weil sie die Macht besaßen, Menschen in eine Schattenwelt zu befördern, nach der auch nur zu fragen bereits gefährlich war.

Viereinhalb Millionen Akten hat das Komitee politischer Gefangener, das sich kurz nach der Befreiung in Bagdad gebildet hat, gesammelt. Das sind viereinhalb Millionen Gefangene, über deren Schicksal Angehörige und Freunde sich nunmehr erstmals informieren können. Die Unkenntnis über Verbleib und Befinden Verschwundener gehörte zur Methodik ba’athistischen Terrors. Mit der Befreiung Bagdads hat die geheime Welt der Strafe aufgehört zu existieren. Und mit ihr auch die quälende Ungewissheit der Angehörigen. An den Massengräbern, die im gesamten Lande gefunden werden, starren die Menschen hinein in das, was ihnen als unaussprechliche Drohung über Jahrzehnte verborgen blieb. Die »Geister« aber sind geblieben.

Anfang Mai meldete die amerikanische Militärverwaltung den Fund von etlichen Zehntausend Büchern in Bagdad. Druckfrisch und säuberlich gestapelt wartete Saddams letzter Roman auf seine Auslieferung. Das Buch handelt von der Rückkehr des Diktators in jenen terroristischen Untergrund, aus dem er einst hervorgegangen ist. Nach der Eroberung des Landes durch fremde Aggressoren nimmt eine handvoll Gerechter den Kampf auf und eint die zerstrittene arabische Welt im Widerstand gegen den Feind.

Das ist der Stoff für den Mythos, auf dem die Ba’ath-Partei nach der Niederlage neu aufgebaut wird. Und auch wenn das Buch seine Leser niemals erreichte, hat sich die alte Nomenklatura längst als nationaler Widerstand formiert. Überall im Lande haben sich Geheimdienstkader und Armeeoffiziere reorganisiert und mit Anschlägen auf amerikanische Soldaten und zivile Einrichtungen deutlich gemacht, dass ihre Macht noch nicht ganz gebrochen ist. Seit Mitte Juni befindet sich der ba’athistische Widerstand in einer Offensive und nutzt die Unzufriedenheit der Bevölkerung über Engpässe in der Versorgung und Widersprüchlichkeiten der amerikanischen Militärverwaltung.

Am 12. Juni begann in Mosul, was sich seither in immer mehr Städten ereignet. Gegen Mittag attackierte eine Gruppe von mehreren hundert Bewaffneten das Gebäude der Koordinierungsbehörde militärischer und ziviler Verwaltung im Zentrum der Stadt. Nur mit großer Mühe gelang es amerikanischen Einheiten, den Angriff zurückzuschlagen, die Gefechte hielten bis in die Morgenstunden des nächsten Tages an. Bei den Angreifern handelte es sich um ehemalige Offiziere der Republikanischen Garden und Mitarbeiter des Geheimdienstes Mukhabarat. Ihre Aktion, so erklärten Gefangene später, richte sich gegen die Weigerung der amerikanischen Verwaltung, Armee- und Geheimdienstangehörigen weiterhin Sold zu zahlen. Ende Mai erhielten die irakischen Beamten erstmals wieder Bezüge, die zum Teil erheblich angehoben wurden. Einzig Militär und Sicherheitsdienste gingen leer aus.

Obwohl es sich bei dem Zwischenfall in Mosul kaum um einen spontanen Aufstand von Verzweifelten handelte, führte er doch einen grundlegenden Widerspruch in der Vorgehensweise der amerikanischen Verwaltung vor Augen. Während man darauf setzte, die militärischen und polizeilichen Strukturen des alten Regimes aufzulösen, blieb die Offiziers- und Verwaltungselite unterhalb der 55 Meistgesuchten bislang praktisch unbehelligt. Vielerorts besteht die ba’athistische Nomenklatura als eine Art informelle Gewalt weiterhin fort und schart jene um sich, die mit der Diktatur auch ihre Privilegien verloren haben.

Am deutlichsten tritt dies in der Region des so genannten sunnitischen Dreiecks zu Tage, dem Stammland der Ba’ath-Partei. In dem Gebiet, das sich von der syrischen Grenze nach Osten bis Bagdad und von dort nördlich nach Tikrit erstreckt, sind auch zweieinhalb Monate nach der Einnahme der Hauptstadt noch längst nicht alle Dörfer von der Diktatur befreit. Und auch in den Städten sind die alten Eliten noch immer präsent und üben Druck auf die Bevölkerung aus. Irgendwo in dieser Region, so vermuten die amerikanischen Streitkräfte, hält sich auch die Führungsriege der Ba’ath-Partei versteckt.

Für die Menschen der zentralirakischen Region ist die Diktatur noch längst nicht Vergangenheit. So wandten sich erst jüngst 200 Familienoberhäupter aus der Stadt Tikrit in einem offenen Brief an die amerikanische Verwaltung und forderten die Verhaftung ehemaliger Ba’ath-Funktionäre in der Stadt. Dieselben Eliten, so der Brief, die einst ihre Unterdrückung organisierten, terrorisierten nach wie vor die Bevölkerung und übten ein unsichtbares Gewaltregime aus.

Das Unvermögen, Saddam Husseins habhaft zu werden, könnte sich daher als ein zentrales Problem der Nachkriegsverwaltung herausstellen. Dass zwar die Statuen des Diktators allerorten gestürzt und seine Bilder heruntergerissen wurden, Hussein selbst jedoch nicht gefasst wurde, nährt nicht nur den von ihm selbst kreierten Mythos seiner Unbesiegbarkeit. Das Gespenst Hussein scheint für immer mehr Menschen sinnbildlich für die ins Stocken geratene Befreiung zu stehen.

Mit ihrer Strategie, zwar die nationale Verwaltung zu übernehmen, lokale Strukturen aber weitgehend unberührt zu lassen, ist die amerikanische Verwaltung in schwer lösbare Schwierigkeiten geraten. Denn während sich vor Ort alte Eliten reorganisieren und den Wiederaufbau blockieren, wird die amerikanische Verwaltung in Bagdad in eine Verantwortung genommen, der sie allein vom Zentrum aus nicht gerecht werden kann.

Die aktuelle Offensive der Ba’athisten nutzt diese Schwierigkeiten erfolgreich aus. Ihre Angriffe richten sich nicht nur gegen amerikanische Soldaten, sondern immer gezielter auch gegen zivile Einrichtungen wie Elektrizitätswerke und Ölpipelines, ohne die der Wiederaufbau unmöglich ist. Die sechs Anschläge auf Pipelines in den vergangenen Wochen gefährden nicht nur das Ziel, die Ölexporte im Juli wieder aufzunehmen, sondern auch die Energieversorgung im Land selbst. In Bagdad ist in der vergangenne Woche nach einem Sabotageakt erneut die Stromversorgung zusammengebrochen.

Der WHO-Mitarbeiter Richard Alderslade berichtete bei einer Tagung in der vergangenen Woche, dass viele Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen nicht wagen, in die Krankenhäuser zurückzukehren. Und auch das alltägliche Verhältnis zwischen der US-Verwaltung und der Bevölkerung ist in Folge der Anschlagsserie gegen amerikanische Soldaten angespannt.

Zu spät, kritisieren unter anderem ehemalige Oppositionsgruppen wie der Irakische Nationalkongress, hat die US-Armee damit begonnen, auch gegen ba’athistische Funktionäre und Armeeoffiziere vorzugehen, die nicht zu den meistgesuchten Prominenten der Regierung Saddam Husseins gehörten. Über 700 Verdächtige wurden im Verlaufe der Operation Desert Scorpion bislang festgesetzt, darunter auch Abid Hamid Mahmoud, der einstige Sekretär Saddam Husseins. Mahmoud galt als graue Eminenz des alten Regimes und wichtigster Mann nach Hussein. Über ihn hofft die US-Armee auch an den ehemaligen Diktator selbst heranzukommen.

Bis dahin allerdings setzen die »Geister« ihren Terror fort. Wie einst schon, so fußt er auf der Angst und dem Elend der Bevölkerung. Und auf der bekannten Unberechenbarkeit eines unsichtbaren Führers. Noch ist die groteske Geisterwelt des ba’athistischen Irak nicht Geschichte. Sie wird erst ein Ende finden, wenn Saddam Hussein gefasst wird und die Mythen und Geheimnisse seiner Herrschaft dem profanen Anblick eines Verbrechers weichen.