Eine schmierige Geschichte

Die britische Öffentlichkeit fühlt sich von den Berichten über irakische Massenvernichtungswaffen getäuscht. Nun kämpft die Regierung um ihre Glaubwürdigkeit. von matthias becker, london

Die britischen Reaktionen auf den Tod von sechs Soldaten im Irak vor zwei Wochen drückte zunächst Fassungslosigkeit aus. Zumindest für die großen Zeitungen war es »eine Tragödie« (Daily Mirror), als »ein Mob« (Daily Mail) die »Helden« (Sun) »wie gehetzte Tiere« (Metro) in »einem blutigen Hinterhalt« (Independent) »bestialisch ermordete« (Times) – und zwar nur wegen »Missverständnissen« (Guardian).

Dass britische und US-amerikanische Soldaten getötet werden, wie es Angehörigen einer Besatzungsarmee eben gelegentlich geschieht, war nicht vorgesehen. In der britischen Selbstwahrnehmung gibt es eine scharfe Trennung zwischen den amerikanischen Cowboys, denen mit hochgezogenen Augenbrauen Durchschlagskraft und Draufgängertum, aber eben nicht die britische strategische Intelligenz zugebilligt werden.

»Sie haben das Geld, wir haben das Hirn«, so fassen viele das alliierte Verhältnis zusammen. Und so diente während des Irakkriegs, der gegen den heftigen Widerstand sowohl der Bevölkerung als auch großer Teile des Establishments durchgesetzt wurde, das antiamerikanische Ressentiment zur Abwehr der politischen Verantwortung. Für alle Pannen während der Invasion im Mittleren Osten, ob zivile Opfer oder durchsichtige Propaganda, war die US-Army verantwortlich. Dass die Irakis solche feinen Unterscheidungen offenbar nicht treffen, schockiert die Briten. Teile der linksliberalen Öffentlichkeit dagegen können sich eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen: Sie haben es ja gleich gesagt.

Vor diesem Hintergrund gewinnt der Konflikt um die angeblichen irakischen Massenvernichtungswaffen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss für Außenpolitik immer mehr an Schärfe. Hat die Regierung die Öffentlichkeit getäuscht, gar bewusst betrogen, als sie in einem Dossier im vergangenen Februar behauptete, Saddam Hussein stünden Massenvernichtungswaffen zur Verfügung, die »innerhalb von 45 Minuten« einsatzbereit wären? Bekanntlich wurde in diesem Dossier eine zwölf Jahre alte Doktorarbeit verwendet, die nicht gekennzeichnet wurde. Einzelne Aussagen und Formulierungen wurden verschärft, um den Irak bedrohlicher erscheinen zu lassen. So wurden »oppositionelle Gruppen« in »terroristische Gruppen« umgewandelt. Die Kernfrage der Untersuchung ist es, ob Regierungspolitiker die Öffentlichkeit bewusst in die Irre geführt haben.

Insbesondere der ehemalige britische Außenminister Robin Cook hat in der vergangenen Woche seine Kritik an Blairs Irakpolitik weiter zugespitzt. Teile der beiden Geheimdienstdossiers seien »schlichtweg ungenau«, sagte er in einem Radiointerview. »Für mich geht es darum, dass uns als Begründung für den Krieg Dinge genannt wurden, die sich danach als falsch herausgestellt haben.« Dazu gehörten vor allem die Angaben über irakische Massenvernichtungswaffen, für die bislang noch keine Hinweise gefunden worden seien. Cook hatte aus Protest gegen den Irakkrieg im März sein Amt als Mehrheitsführer im Unterhaus niedergelegt.

Tony Blair konnte den peinlichen Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss vermeiden. Außenminister Jack Straw dagegen musste vergangene Woche zugeben, dass es sich bei dem umstrittenen Dossier um »eine Peinlichkeit« handelt, mit der er aber persönlich nichts zu tun habe. Danach wurde die Aussage von Alistair Campbell, Pressechef und enger Vertrauter Tony Blairs, gespannt erwartet. Er bestimmt die Öffentlichkeitsarbeit und damit die oft populistische Politik New Labours wie kein anderer. Pikant macht diese Auseinandersetzung, dass er als ehemaliger Kolumnist einer Boulevardzeitung selbst durchaus vom Fach ist. Damals berichtete er beispielsweise exklusiv, dass der ehemalige Premier John Major die Angewohnheit habe, sich das Hemd in die Unterhose zu stecken.

Seit Campbell aber die Seiten gewechselt hat, nimmt er es mit den Pflichten der freien Presse genau. Vor dem Ausschuss führte Großbritanniens oberster spin doctor ein Lehrstück professioneller politischer Kommunikation auf, als Regisseur und Hauptdarsteller in einem. Bekanntlich ist Angriff immer die beste Verteidigung, ob es sich nun um Schurkenstaaten oder die öffentliche Meinung handelt. Campbell gab widerwillig zu, dass vielleicht nicht alles in dem Dossier ganz korrekt war, nur um sofort zum Gegenangriff überzugehen. Er beschuldigte die British Broadcasting Corporation (BBC), zu negativ über den politischen und den militärischen Konflikt berichtet zu haben. »Gewisse Kreise« innerhalb des Senders arbeiteten systematisch gegen die Regierung.

Zum gekonnten medialen Gegenangriff gehört die Personalisierung, und es fand sich auch gleich ein geeignetes Opfer. Ein Reporter der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt hatte im Mai berichtet, dass bestimmte Details gegen den Willen der britischen Geheimdienste eingefügt wurden. Ihn bezichtigte Campbell der Lüge und verlangte ultimativ eine Entschuldigung von der Sendeleitung. »Wir werden uns nicht für etwas entschuldigen, was wir nie gesagt haben«, erklärte darauf BBC-News-Chef Richard Sambrook am vergangenen Donnerstag. Für die Informationen in dem Bericht habe es eine »ranghohe und glaubwürdige Quelle im Geheimdienst« gegeben.

Das so genannte »schmierige Dossier« war das gemeinsame Produkt des Joint Intelligence Committee, also der Leiter der Geheimdienste MI 5 und MI 6, und der Presseabteilung der Regierung. Um die Details seines Zustandekommens dreht sich nun die Debatte. Aber hat die Regierung es wirklich nötig, Geheimdienstler unter Druck zu setzen, um einen erwünschten Krieg zu rechtfertigen? Üblicherweise ist eine solche Zusammenarbeit harmonischer. Oder reichte die Spaltung der Eliten um Krieg oder Frieden vielleicht wirklich bis in die Geheimdienste? Solche nahe liegenden Fragen werden in Großbritannien öffentlich nicht gestellt.

Der Pressesprecher des Bündnisses der Friedensbewegung Stop the War Coalition, Andrew Bergen, hält die ganze Affäre ohnehin für kaum mehr als ein Ablenkungsmanöver, wie er der Jungle World erklärte: »Ob die Lüge aus der Regierung kam oder vom Geheimdienst, entscheidend ist, dass sie nicht die Wahrheit sagten.« Für die britischen Kriegsgegner ändert die Auseinandersetzung um Details nichts daran, dass »dieser Krieg ebenso falsch wie illegal war«. Eine Opposition gegen die Besatzung des Irak gibt es außerhalb linksradikaler Zirkel und der muslimischen Bevölkerung kaum noch, seit im Irak Fakten geschaffen wurden.

Für die Regierung allerdings steht ihre Glaubwürdigkeit grundsätzlich auf dem Spiel. Ein Kommentator der konservativen Tageszeitung Times fasste New Labours Problem treffend zusammen, als er schrieb: »Wenn die Leute dem Premierminister zutrauen, wegen des Irakkriegs zu lügen, werden ihm dann die Wähler glauben, dass sich das Gesundheitssystem verbessert?« Denn der desolate Zustand der öffentlichen Dienste und nicht die Außenpolitik wird die nächsten Wahlen entscheiden. Und zum ersten Mal seit Jahren hat die Labour Party in den Meinungsumfragen ihren Vorsprung gegenüber den Konservativen eingebüßt.