Alles eine Frage des Blickwinkels

Eine Dokumentation zeigt, wie Investoren Nutzen aus den Ereignissen des 11. September gezogen haben. von rené martens

Als am 11. September 2001 die Türme des World Trade Center einstürzten, reagierte die große Mehrheit der Menschen entsetzt und eine nicht zu unterschätzende Minderheit geistig Verwirrter schadenfroh. Eine weitere, relativ kleine Minderheit hatte indes ganz andere Dinge im Kopf. Weltweit rund 1 000 Kapitalanleger – die Hälfte davon aus Australien und Neuseeland – dachten: »Oh Gott, was wird jetzt aus meinem Geld?«

Gegenüber dem Filmautor Michael Wech geben zumindest zwei der Investoren zu, dass sie am Tag der Katastrophe von schnöden und egoistischen Gedanken besessen waren. Die Besorgten hatten ihr Geld bei der Firma First Equity angelegt, die im 15. Stock des Südturms residierte und vorgeblich im Devisenhandel aktiv war. Die Kunden hatten, überzeugt von psychologisch geschulten Telefonverkäufern, die nicht älter waren als 24 Jahre, dem New Yorker Unternehmen teilweise sechsstellige Summen anvertraut.

In »Die Abzocker aus dem World Trade Center – eine andere Geschichte des 11. September« rekonstruiert Michael Wech nun, dass First Equity und ihre Mutterfirma Evergreen nur im kleinen Rahmen mit Devisen gehandelt, vorrangig aber eine Art Pyramidenspiel betrieben und einen Teil der Kundengelder verjuxt haben, um private Bedürfnisse (Spielsucht, edle Klamotten) befriedigen zu können. Der Clou dieses Wirtschaftsverbrechens: Die Protagonisten verstanden es, einen Nutzen aus einem weitaus größeren Verbrechen zu ziehen.

Seit dem 11. September 2001 ist die Geschäftstätigkeit der beiden Firmen beendet – aber nicht etwa, weil Mitarbeiter ums Leben kamen. Die beiden Firmengründer, Andrei Koudachiv und Gary Farberov, nutzten den Rauch und Staub über Manhattan und das allgemeine Chaos, um die Firmenkonten leerzuräumen – und vor allem, um 104 Millionen Dollar, die Koudachiv schon vorher auf von ihm geführte Nummernkonten in Budapest geschaufelt hatte, so weiter zu transferieren, dass sich ihre Spur heute nicht mehr verfolgen lässt.

Im Mittelpunkt dieser Dokumentation stehen vier Zeitzeugen. Da sind einmal zwei Opfer, die unterschiedlich hart getroffen sind. Der eine sieht »unsere Pläne für den Ruhestand zerstört« und sich selbst schon im Supermarkt die Einkaufswagen zusammenschieben, der andere, ein offensichtlich immer noch wohlhabender Zocker, nimmt es halbwegs gelassen. Von einem weiteren Interviewpartner weiß man nicht, ob er Opfer oder Mittäter ist (was dem Film natürlich eine gewisse Spannnung verleiht): Albert Guglielmo, Ex-Direktor von Evergreen, muss womöglich – das Strafmaß wird Ende September verkündet – 30 Jahre hinter Gitter, obwohl er vorgibt, von den kriminellen Machenschaften nichts gewusst zu haben. Viel gewusst hat dagegen Hauptfigur Nummer vier: der Privatdetektiv Gus Papay, den bereits 1998 ein misstrauischer Investor beauftragt hatte.

Der Reiz dieser Dokumentation besteht unter anderem darin, dass Guglielmo und Papay wie Schauspieler wirken. Guglielmo könnte in jedem Mafiafilm einen großkotzigen Italo-Amerikaner spielen, und der füllige, rotgesichtige Papay wäre gut geeignet, in einem US-Independent-Film den reaktionären Provinzbullen zu verköpern, dem die Rechte eines Verhafteten nicht besonders viel bedeuten.

Die wahren Hauptfiguren dieses Kriminalfalls sind im Film zwangsläufig Randfiguren: Gary Farberov hat zwar der New Yorker Staatsanwaltschaft als Kronzeuge zur Verfügung gestanden, weshalb ihm allenfalls drei Jahre Gefängnis bevorstehen, aber mit Journalisten redet er natürlich nicht. Immerhin gibt es von ihm ein paar Aufnahmen (auf dem Weg vom Gerichtsgebäude zu seinem Auto). Aber von Koudachiv gibt es nicht einmal das. Der ist untergetaucht und lebt wahrscheinlich in Moskau, wo er nichts zu befürchten hat, weil es zwischen den USA und Russland kein Auslieferungsabkommen gibt.

Michael Wech scheint generell ein Gespür zu haben für Kriminalfälle, die reich sind an absurden Facetten. 2002 bewies er dies – als Co-Autor Oliver Schröms – mit der Dokumentation »Im Schatten des Schakals«, die einen größenwahnsinnigen Wirrkopf namens Carlos, der lange als »meistgesuchter Terrorist der Welt« galt, als Auftragskiller diverser Geheimdienste verschiedener Schurkenstaaten entlarvte.

In »Die Abzocker aus dem World Trade Center« muss Wech an einigen Stellen vage bleiben. Da Koudachiv nicht auffindbar ist, kann der Autor nur darüber spekulieren, wie gut dessen Verbindungen zur russischen Elite sind. Fest steht, dass Koudachiv zwei Jahre lang, parallel zu seinem Wirken bei First Equity und Evergreen, wirtschaftlicher Berater Boris Gromovs war – immerhin der Gouverneur der Region Moskau und somit ungefähr so einflussreich wie hierzulande ein Ministerpräsident. Möglicherweise wäre es auch eine Erwähnung wert gewesen, dass Koudachiv bei der letzten Duma-Wahl als Kandidat für eine sowjetkommunistische Splitterpartei antrat. Dann könnte man sich als Zuschauer die halbwegs amüsante Frage stellen, ob dieser Gauner nur deshalb im Geldanlagengeschäft mitgemischt hat, weil er sich am Klassenfeind von einst rächen wollte.

»Die Abzocker aus dem World Trade Center – eine andere Geschichte des 11. September«, ARD, 11.9., 23 Uhr