Für ein Kleineuropa!

Gegen die Macht Amerikas und die Machtansprüche Europas hilft nur ein Netzwerk sozialen Widerstands. von franco berardi (bifo)

Anfang Juni 2003 haben Jürgen Habermas und Jacques Derrida einen Aufruf zur künftigen europäischen Politik verfasst, zu dem sich andere prominente Intellektuelle in namhaften europäischen Zeitungen geäußert haben: Wie kann man in einer besonders schwierigen Phase zur europäischen Vereinigung beitragen? Eine solche Initiative hat in den vergangenen Jahren gefehlt. Das »Projekt Europa« hat bis heute weder soziale Mobilisierung noch intellektuelle Reflexion noch politische Leidenschaft wecken können, die europäische Vereinigung war lediglich ein aseptisches Experiment der Verwaltungstechnik.

Die positive Funktion des Aufrufes von Habermas und Derrida besteht darin, dass er zur Übernahme intellektueller Verantwortlichkeit auffordert und Europa nicht nur als politischen, sondern auch als philosophischen Schwerpunkt betrachtet. Ich befürchte allerdings, dass der begriffliche Rahmen, in dem sich die beiden Philosophen bewegen, nicht mehr der Gegenwart entspricht. Ihr Versuch erscheint mir daher ehrenwert, doch zum Scheitern verurteilt, da er eine Perspektive und eine kulturelle Identität voraussetzt, die der Vergangenheit angehören.

In den vergangenen Monaten war das Scheitern des Projektes einer europäischen Vereinigung offensichtlich. Diese Niederlage ist eng mit einem unzeitgemäßen Denkmodell verbunden, das in der humanistischen Tradition der Aufklärung seine Wurzeln hat. Dieses geschichtliche Paradigma ist heute nicht mehr anwendbar, um die neuen Entwicklungen der Weltgeschichte zu begreifen. Die Niederlage hat sich zuletzt in der Konfrontation zwischen dem deutsch-französischen Kerneuropa und der Kriegsfront deutlich offenbart, die nach dem Amtsantritt von George W. Bush immer stärker geworden ist. Das erste und wichtigste Ziel, das die US-Administration mit dem Irakkrieg in diesem Frühjahr verfolgte, war es, die EU zu besiegen.

Dieses Ziel wurde erreicht. Wenn sich Europa überhaupt ein Recht zur Existenz erkämpfen will, muss es jetzt nicht nur seine geopolitische Position strategisch neu definieren, sondern auch seine spezifische kulturelle und soziale Identität bestimmen.

Die Mission der Kriegsfront unter der Präsidentschaft von George W. Bush ist die unbegrenzte Ausbreitung des neoliberalen Projekts. Die autoritäre Hand des Staates ersetzt die Dynamik des Freihandels, um die Interessen der Großkonzerne durchzusetzen, der nationalistische, antiglobale Liberalismus nimmt unter dem unendlichen Krieg der US-Regierung Gestalt an. Nur durch eine Umkehrung dieser Tendenzen wird sich Europa unabhängig machen und dadurch dem »Projekt Europa« Sinn verleihen. Aber die Menschen, die Europa zurzeit regieren, besitzen weder die kulturellen Fähigkeiten noch die Absicht, dem neoliberalen Entwurf etwas entgegenzusetzen. Aus diesem Grund werden sie das Projekt Europa nicht realisieren können. Und trotzdem muss dieses Projekt zum Hauptziel der antikapitalistischen sozialen Bewegungen werden.

Als sich im Laufe des vergangenen Jahres die bellizistische Haltung der Bush-Administration immer deutlicher zeigte, hat sich gleichzeitig die Illusion einer politisch unabhängigen Identität Europas verbreitet. Trotz seiner militärischen und strategischen Schwäche oder gerade wegen des relativ niedrigen militärischen Profils Europas verbreitete sich die Überzeugung, dass ein von Frankreich und Deutschland geführtes Kerneuropa die Alternative zum amerikanischen Modell darstellen könnte. Es war meiner Ansicht nach eine falsche Herangehensweise an das Problem, die dazu geführt hat, ein politisches Projekt nach militärischen Maßstäben zu beurteilen. Mit der Ablehnung der US-Angriffsoperation haben Frankreich und Deutschland nämlich auch ihre wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen verteidigt.

Die verbreitete Vorstellung, die der US-Hegemonie eine europäische Unabhängigkeit gegenüberstellt, definiert sich durch die Verteidigung der Bürgerrechte und einen sanften Liberalismus sozialdemokratischer Prägung.

Aber diese Vorstellung ist inakzeptabel. Es gibt in Europa und in Amerika eine demokratische Öffentlichkeit, die sich gegen den Krieg gestellt hat. Diese Öffentlichkeit stellt in Europa eine Mehrheit und in den USA eine Minderheit dar. Wichtig ist heute, die kosmopolitische und internationalistische Kultur, die sich dem Krieg widersetzt hat, zu stärken. Eine demokratische, antineoliberale Bewegung kann nicht die Vorstellung eines geopolitisch-wirtschaftlich nationalistischen Europas akzeptieren und muss etwas Neues behaupten: Das Prinzip eines extensiven, postnationalistischen Aufbaus Europas von unten. Die positiven Aspekte der europäischen Erfahrung bestehen in der Entstehung von Netzwerken, die nicht einem konkreten Raum entsprechen und die sich über die historischen und geographischen Grenzen Europas hinaus ausdehnen.

Die Bush-Administration scheint entschlossen, ein oligarchisches und aggressives Regime durchsetzen zu wollen. Wichtig ist heute, an dem in den USA internen Widerspruch zwischen demokratisch-libertärer Kultur und Bush-Nationalismus anzusetzen, wenn wir nicht in die ideologische Falle geraten wollen, die von der Maschinerie des Präventivkrieges sorgfältig vorbereitet wurde. Eine starke Bewegung in den USA könnte die Menschheit von der Gefahr des globalen Faschismus befreien; die Opposition zwischen alten europäischen Tugenden und US-Hegemonie ist nicht in der Lage, so etwas zu erreichen. Bush ist in erster Linie ein Feind der Amerikaner. Die Formulierung des europäischen Konzepts kann nicht dazu dienen, der amerikanischen Deterritorialisierung eine europäische Identität entgegenzusetzen. Ein solches Konzept muss vielmehr zur Entstehung einer neuen Bewegung beitragen, die in der Lage ist, die soziale, neoliberale Front zu destabilisieren.

Die Konfrontation zwischen der von der USA geführten neokonservativen Front und der Uno und der EU hat das Ende der Überlegenheit des Rechtsprinzips besiegelt. In den Monaten vor dem Krieg hat die Bush-Präsidentschaft ein einziges Ziel verfolgt: Sie wollte beweisen, dass, wer das Gewaltmonopol besitzt, alles kann. Die Gewalt ist jetzt Teil einer Doktrin, die den politischen Universalismus der Moderne ersetzt hat.

Es ist notwendig, von diesem Punkt auszugehen, um das Projekt Europa jenseits der Grenzen des modernen politischen Denkens und jenseits des philosophischen Kontextes der Aufklärung und der Romantik neu zu definieren. Es ist heute nicht mehr möglich, die postmoderne Barbarei lediglich durch die Behauptung von Prinzipien zu stoppen, deren soziale Basis nicht mehr vorhanden ist.

Nach dem 15. Februar 2003, den großen Demonstrationen gegen den Irakkrieg, erlebte die Geschichte der Bewegung eine Wende. Bislang galt nämlich die Voraussetzung, dass eine Mobilisierung zu Demonstrationen den Konsens mit der neoliberalen Politik aufweichen konnte. Das traf von Seattle bis Genua zu. Doch nach dem 11. September 2001 ist die politische Macht innerhalb des kapitalistischen Globalisierungsprozesses in kriminelle Hände geraten. Es hat deswegen keinen Sinn mehr, den Weg der demonstrativen Politik, des ritualisierten, egal ob gewaltsamen oder friedlichen Protestes anlässlich der Gipfel der Weltmächte weiter zu gehen. Die ökonomische, politische und militärische Schicht, die Bush unterstützt, hat gezeigt, dass sie, ohne sich um einen Konsens zu bemühen, bereit ist, Kriege zu beginnen. Ein solcher Feind lässt sich nicht durch Versuche, den Konsens aufzuweichen, bekämpfen. Daher braucht die Bewegung neue Aktionsformen.

In anderen Phasen der modernen Geschichte haben Männer und Frauen angesichts der Tyrannei und der Gewalt berechtigt mit bewaffnetem Aufstand reagiert. Das wird heute nicht geschehen, denn die neue Generation hat begriffen, dass Gewalt Faschismus produziert, genau so, wie Faschismus Gewalt herstellt.

Es ist heute unmöglich, an eine Umkehrung der Machtverhältnisse zu denken, denn auf dieser Ebene entspricht der Abstand zwischen Machthabern und der Mehrheit der Menschheit dem Unterschied zwischen einem Molotow-Cocktail und einer Atombombe.

Wir dürfen nicht die Verzweiflung als letztes Wort in der Menschheitsgeschichte betrachten, wir müssen etwas erfinden. Die Orte, in denen sich Herrschaft und Ausbeutung reproduzieren, gehören abgeschafft, Europa muss erfunden werden. Die Bewegung muss einen Begriff formulieren, welcher nach einem generativen Prinzip funktioniert. Die Gestalt, die es zu erfinden gilt, entspricht dem vom Semiokapital (ökonomisches System, das auf Zeichenproduktion basiert und in dem Kapital kein Produktionsverhältnis darstellt) hervorgerufenen und gleichzeitig komprimierten Reichtum, sie entsteht aus der potenziellen, im Netzwerk des general intellect vorhandenen Energie.

Europa verfügt über keine Identität, sondern ist im Werden begriffen, bei dem soziale und ökonomische Kräfte eine wichtige Rolle spielen. Diesen Kräften fehlt jedoch eine positive Perspektive. Europa ist kein Territorium, es kann nicht anders denn als Verbindung zwischen nationalen oder regionalen Gebieten verstanden werden.

Auf die Frage: »Was ist Europa?« würden wir also antworten: »ein Netzwerk«. Ein Netzwerk hat nichts mit der Geschichte der territorialen Politik zu tun. Erstens entspricht ein Netz keiner bestimmten Geometrie und kann sich ausdehnen oder verkleinern je nach der Funktion, die es gerade ausübt. Ein Netz kann außerdem gleichzeitig mit anderen Netzen bestehen, ohne dass dadurch Konflikte aufkeimen.

Der Aufbau eines europäischen Raumes bedeutet Konstitutionalisierung des Werdens, denn Netze sind nicht, sondern sie werden.

Eine solche Operation kann nur durch eine Verfassung möglich werden, die wie eine Software funktioniert: Die Regeln werden verändert, je nach der Anwendung, für die sie gebraucht werden.

Die allgemeine Methode ist es, Minorität zu privilegieren. Minorität ist die Fluchtlinie, auf welcher ein europäisches Netz wächst und sich entwickelt.