Sleeper Cell

Hauptquartier, Meldung 3 247

Kontrolle der Kontrolle: In der amerikanischen Wüste detonieren 120-Millimeter-Geschosse, acht Meilen von unserer Position entfernt. 400 Mann mit 7,62-Millimeter-MGs rücken vor, graben sich in den Dreck, warten den nächsten Morgen ab.

Wenn US-Marines trainieren, dann geht in der Wonder-Valley-Bar manchmal das elektrische Licht aus. Dann kommt es wieder, ein blasser, orangefarbener Wurm im Inneren der Birne erscheint, so dass der Raum wirkt, als betrachte man ihn durch dicke schwarze Gläser. Ein Marine-Infanterist in Zivil steht vor der Jukebox, er wählt irgendwas von ZZ Top, sie spielen hier immer ZZ Top.

Hannah schaut mich an, wir sitzen stumm da, sie sagt etwas von »Die Welt in Ordnung trinken …« Ich kann sie unruhig atmen hören und ahne, was sie denkt: Warum legen wir nicht mal einen von denen um? Unsere Vorsichtsmaßnahmen werfen wir über den Haufen. Mal sehen, was die dann im Hauptquartier sagen.

Eine Minute Schweigen. Zwei Marine-Infanteristen spielen jetzt Pool am anderen Ende des Raums. Sie haben das Licht über dem Tisch eingeschaltet, aber die Birne leuchtet bloß schwach. Hannah steht plötzlich auf und läuft zu den Männern am Tisch.

»Habt ihr mal Feuer für mich?« fragt Hannah. Es ist vier Uhr nachmittags und außer uns, dem Barkeeper und den Marines ist niemand da. Hannah ist nicht betrunken. Ich glaube auch nicht, dass sie provozieren will, sondern Nähe sucht. Sie weiß, dass ihre Gedanken über das Töten eine Reise in die Schwäche ist, in Fragen ohne Antwort, in Grübelei, Antiamerikanismus, Introspektion, Schwermut, Bullshit. Quälend ist bloß, dass jeder Satz, der kraft Hirn ein Recht hat, gedacht zu werden, auch irgendwie berechtigt scheint, im schlimmsten Fall eben auch immer als richtig verstanden werden kann. So entstand ja auch vor langer Zeit einer unserer ersten Grundsätze zur Verbesserung journalistischer Effektivität: §12. Journalisten sind am ehesten geneigt zu töten, wenn sie von Phantasien des Erstarrens, der Sinnlosigkeit und der Trennung von der Wirklichkeit überwältigt sind.

»Wenn du mir eine Liebesgeschichte erzählst, würde ich alles für dich tun«, sagt jetzt einer der Männer im Südstaaten-Dialekt. Er ist etwa 25 und hat eine große »Sempre Fi«-Tätowierung am Hals. Er zieht sich im Rollstuhl, den wir vorher nicht bemerkt haben, dichter an den Tisch heran.

Sein Kollege erzählt, er sei Maschinengewehrschütze. Wenn ein Haus gestürmt wurde, sei er immer der zweite Mann gewesen, der durch die Tür getreten ist. Sein Kollege sei im Irak von einem Bohrturm gefallen. Er habe dort nach Sprengsätzen gesucht. Der Sturz hat ihm die Hüften zerstört. Der Marine im Rollstuhl gibt Hannah Feuer.

»Freut mich sehr, eure Bekanntschaft zu machen«, sagt Hannah jetzt kühl. »Jetzt lass mal aber deine Liebesgeschichte hören«, sagt der zweite Marine. Er sieht nach Sterben aus. Er ist so bleich.

»Ich habe mal geliebt«, sagt sie. »Aber jetzt nicht mehr.« Schweigen. »Das ist aber eine kurze Liebesgeschichte«, sagt der Marine im Rollstuhl. Zuerst grinst er, dann zieht er die Mundwinkel herunter, als könnte er den Tod sehen. »Stimmt, die Story war kurz«, sagt Hannah. »Hier, auf dein Wohl. Und danke fürs Feuer.«

Hannah hebt das Glas. Sie zieht an ihrer Zigarette. Sie kehrt zur Bar zurück und schaut mich ernst an. Gehirn und Seele sind zerrissen. »Lass uns bei K-Markt Tulpen kaufen«, sagt sie. Morgen wird alles besser.

»Sleeper Cell« erscheint als anonymer Kolumnenroman.