Der Jazz und die Partei

Der britische Historiker Eric Hobsbawm berichtet in seiner Autobiografie »Gefährliche Zeiten« über Amerika, sein Judentum, die Musik, Kondensmilch und den Kommunismus. Von Martin Krauß

Diese Rezension beginnt mit einem langen Zitat, es stammt aus dem Jahr 1936: »Eric John Ernest Hobsbaum, ein großer, eckiger, schlenkriger, hässlicher, blonder Kerl von achtzehneinhalb, mit einer raschen Auffassungsgabe, umfangreichem, wenn auch oberflächlichem Allgemeinwissen und originellen zahlreichen sehr allgemeinen und theoretischen Ideen, unverbesserlicher Poseur, umso gefährlicher und hier und da wirksamer, als er sich selbst in seine Pose hinreinredet, unverliebt und mit anscheinend gut sublimierter Sinnlichkeit, die sich in Natur- und Kunstekstasen (selten) auswirkt, ohne jeden moralischen Sinn, durchaus egoistisch, manchen Leute höchst unsympathisch, andern sympathisch, wieder andern, der Mehrzahl, bloß lächerlich. Er möchte ein Revolutionär werden und hat vorläufig keine Organisationsgabe; er möchte ein Schriftsteller werden und hat weder Gestaltungskraft noch Energie; er hat Hoffnung, nicht mal so sehr den Glauben, um die nötigen Berge zu versetzen. Er ist eitel und eingebildet. Er ist ein Feigling. Er liebt die Natur sehr. Und er vergisst die Deutsche Sprache.«

Diese Selbstcharakterisierung findet sich im Tagebuch von Eric Hobsbaum. Ähnlich selbstkritisch meldet er sich ein paar Jahrzehnte später wieder zu Wort. In der Zwischenzeit wurde aus dem Nachnamen Hobsbaum Hobsbawm und aus seinem Träger einer der führenden marxistischen Historiker des 20. Jahrhunderts. Von ihm stammen Werke wie »Europäische Revolutionen« (1962), »Das imperiale Zeitalter 1875– 1914« (1987), »Das Zeitalter der Extreme 1914–1991« (1994), aber auch »The Jazz Szene« (1975, leider nicht auf Deutsch) und »Ungewöhnliche Menschen« (1998). Er lehrte in Großbritannien und den USA, und seine Autobiografie, die er nun vorlegt, ist die Erzählung über einen Intellektuellen. Auf deutsch heißt das Buch »Gefährliche Zeiten«, was aber seiner Intention gar nicht entspricht. Der englische Titel »Interesting Times«, frei übersetzt: Erlebte Zeiten, passt da besser. Hobsbawm sieht sich ja selbst bloß als »teilnehmenden Beobachter« des Jahrhunderts. Und dass die Tätigkeit eines Hochschullehrers nicht zu den gefährlichsten gehört, ist ihm sehr bewusst.

»Wahrscheinlich wird mein Name in den historischen Darstellungen von ein, zwei Spezialgebieten vorkommen, etwa Marxismus und Historiographie im 20. Jahrhundert«, teilt er unprätentiös im Vorwort mit, »und vielleicht wird man ihm in einigen Büchern über die britische intellektuelle Kultur des 20. Jahrhunderts begegnen.«

Die Erzählung seines Lebens beginnt er nicht mit der Entdeckung des Marxismus, sondern des Judentums. Hobsbawm wurde 1917 in Ägypten geboren, aber seine britischen Eltern zogen bald nach Wien. Er berichtet, dass es »einfach keine Möglichkeit (gab), zu vergessen, dass man Jude war, auch wenn ich mich an keinen mir persönlich bekannten Antisemitismus erinnern kann, da mir meine englische Staatsbürgerschaft zumindest in der Schule eine Identität verlieh, die alle Aufmerksamkeit von meinem Judentum abzog«.

Bis heute ist Hobsbawm ein bewusster Jude, aber ein Jude wider Willen. »Ich habe keine emotionale Verpflichtung gegenüber den religiösen Praktiken meiner Vorfahren«, schreibt er recht weit vorne in seiner Autobiografie, »und noch weniger gegenüber dem kleinen, militaristischen, kulturell enttäuschenden und politisch aggressiven Nationalstaat, der aus rassischen Gründen meine Solidarität fordert.«

Was sich hier klar und eindeutig anhört, war in seinem Leben nicht so klar. Seine Mutter hatte ihm auf den Weg gegeben: »Du darfst nie etwas tun, das den Eindruck erwecken könnte, dass du dich schämst, ein Jude zu sein.« Hobsbawm hält sich bis heute daran, auch wenn es ihm mitunter schwer fällt.

Die Eltern starben früh, der Vater im Alter von 48 Jahren im Jahr 1929, zwei Jahre später im Alter von 36 Jahren die Mutter. Eric und seine Geschwister kamen zu Onkel und Tante nach Berlin, er ging zur Schule und wurde politisiert. Berlin machte »einen lebenslangen Kommunisten aus mir«. Ein Projekt, das ihm im Leben viele Niederlagen bereitete, er scheiterte schon beim »Initiationsritus des typischen sozialistischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, nämlich dem kurzlebigen Versuch, ›Das Kapital‹ von Karl Marx von der ersten Seite an zu lesen und zu verstehen«.

Hobsbawms angenehm erzählender Grundton, der auch ein gewisses Pathos nicht vermissen lässt, verrät den weltgewandten Intellektuellen, der er im Laufe der Jahrzehnte wurde. Wer wissen will, was die europäische Linke des 20. Jahrhunderts in so viele Irrwege trieb, der frage doch einfach Hobsbawm. Wie konnte es etwa zur Sozialfaschismusthese kommen? »Natürlich waren die Nazis unsere Feinde auf der Straße, aber das galt auch für die Polizei, und die Chefs der Polizei, deren Leute am 1. Mai 1929 an die dreißig Arbeiter getötet hatten, waren Sozialdemokraten.« Hobsbawm weiß, dass er sich damals irrte, aber er weiß auch, dass sich nach ihm andere auch geirrt haben: »Wir hatten somit auffällige Ähnlichkeiten mit den jungen Radikalen von 1968.«

Als einen von mehreren Gründen, Kommunist zu werden, nennt er eine »kräftige Portion intellektueller Spießerfeindlichkeit«. Das führte immerhin dazu, dass er mit anderen Jugendlichen »bei Dosen mit stark gezuckerter Kondensmilch (›für Babys ungeeignet‹) und vielen Tassen Tee« eine neue Musik entdeckte: den Jazz.

Seine Liebe zum Jazz war es auch, die ihm in späteren Jahren half, sich gegenüber neuen Themen zu öffnen. »Durch den Jazz fand ich mich mit einer frühen antirassistischen Kampagne« im Jahr 1958 verbunden.« Der Jazz verhalf ihm aber nicht nur zu neuen Einsichten. »Wenn es überhaupt etwas gibt, was die sechziger Jahre symbolisiert«, schreibt er, »dann ist es die Rockmusik«. Und das war halt nicht seine Musik, »die Jazzwelt konnte – mit ganz seltenen Ausnahmen – den Rock nicht verstehen.«

Der Rebell mit der irritierenden Vorliebe für Kondensmilch und Jazz blieb zunächst mal Parteisoldat. »Die leninistische Partei als ›Vorhut der Arbeiterklasse‹ war eine Verbindung aus Disziplin, organisatorischer Effizienz, einer extremen emotionalen Identifikation und einem Gefühl der totalen Hingabe«, schreibt er und berichtet aus seiner Jugend, wie eine Freundin von ihm bei einem Hausbrand eingekeilt war, zu verbrennen drohte und in Todesangst rief: »Long live the Party, long live Stalin!«

Die Stärke von Hobsbawms Autobiografie liegt darin, dass er auch in solchen offenkundig wahnhaften Entwicklungen noch den Punkt sucht, der ihn als gewiss nicht dummen jungen Mann so etwas mitmachen ließ. »Kurzum«, fasst er knapp zusammen, »wir standen auch weiterhin loyal zu Moskau, weil die Sache des Weltkommunismus auch ohne die Unterstützung eines kleinen, wenn auch heldenhaften und bewunderten Landes auskommen würde, aber nicht ohne die von Stalins Supermacht.«

Was ihn mitunter schwanken ließ, war der sozialistische Zionismus. Der übte auf Hobsbawm eine Anziehungskraft aus, die aber noch nicht so stark war, dass er die Partei verlassen hätte. Um sich wenigstens ein bisschen dem Zionismus zu nähern, bedurfte es des Krieges und seines Militärdienstes. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte ihn die britische Armee nach Palästina schicken. »Das war schließlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Kommunistische Juden waren natürlich aus Prinzip Antizionisten. Doch wo immer meine Sympathien, Antipathien oder Loyalitäten liegen mochten, die Lage eines jüdischen Soldaten, der mitten in einen dreifachen Konflikt zwischen Juden, Arabern und Engländern abgesetzt wurde, war für mich mit zu vielen Komplikationen verbunden.«

Dort ging er also nicht hin, sondern die Armee schickte ihn nach Deutschland, um die Reeducation zu unterstützen. Er beschreibt sein »Demokratisierungs-Team« als bunt gemischten Haufen, den man »unmöglich politisch oder auch nur wirtschaftlich als ›zuverlässig‹ bezeichnen« konnte. Im Rückblick ist ihm einerseits »die Vorstellung, dass wir über den Kanal zu diesen intelligenten Leuten mit einem Patentrezept für eine demokratische Zukunft gekommen seien, ziemlich peinlich«. Andererseits vermerkt er, dass sie »nicht jene Art instinktiver Ablehnung gegen die Deutschen empfanden, wie sie das inzwischen verbreitete Wissen über Auschwitz und die übrigen Vernichtungslager nach heutiger Vorstellung hätte auslösen müssen«.

Die Armee verließ er bald und wurde trotz wachsendem Antikommunismus Hochschullehrer, der schnell Anerkennung fand. Und neben dem Jazz und der Kommunistischen Partei stellte sich noch eine dritte große Leidenschaft im Leben des Eric Hobsbawm ein: Amerika, eigentlich New York, der »vermutlich beste Ort, um jemanden wie mich zu überzeugen, dieses außergewöhnliche Land zu verstehen und vielleicht zu lieben«.

Wie der Jazz und wie das Judentum, so halfen Hobsbawm auch seine langjährigen Aufenthalte in den USA, sein Verständnis von linker Politik zu weiten. Dabei hatten ihm, dem bekennenden KP-Mitglied, die US-Behörden etliche Schikanen bereitet. Er aber nimmt die USA als großes bürgerliches Faszinosum. Er kritisiert ihre Rolle als führende imperialstische Macht, er lobt die stabile demokratische Kultur des Landes, und gegen jede Kritik verweist er erstmal deutlich darauf, dass die USA bei Migranten die höchste Attraktivität aufweisen.

Währens seiner ganzen Autobiografie bleibt Hobsbawm so selbstkritisch, wie er es als 18jähriger Tagebuchschreiber war. »Mein Image zu Beginn meines achten Lebensjahrzehnts war das eines exzentrischen älteren Granden unter den wissenschaftlichen Historikern, der nun einmal darauf bestand, Marxist zu sein«, schreibt er. Und er weiß doch, wie er als teilnehmender Beobachter des 20. Jahrhunderts die Distanz halten konnte: »Was ich über diese Zeit geschrieben habe, ist das, was ein Autobiograph schreiben kann, der nie Jeans getragen hat.«

Eric Hobsbawm: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert. Carl Hanser Verlag, München/ Wien 2003. 500 S., 24,90 Euro