Here Come the Indians

Jonathan Franzens erster Roman »Die 27ste Stadt« liegt nun auch auf Deutsch vor. Er handelt von der Wirtschaft und der Familie und von einem Patriarchen, der verliert. Von Jörg Sundermeier

Die Inder greifen an. Allerdings keine High-Tech-Experten, die zur großen Sorge der nordrhein-westfälischen CDU per Green Card ins Land geschleust werden. Nein, in einen Ort, der, wie Jonathan Franzen schreibt, »sehr an St. Louis erinnert« und auch so heißt, und in einem Jahr, das »vage an 1984 erinnert«, werden zwei Inderinnen eingeladen. Die eine heiratet den Brauereibesitzer Hammaker, einen der einflussreichsten Männer der Stadt. S. Jammu dagegen, zuvor eine hohe Polizeibeamtin in Bombay, wird in St. Louis zur Polizeipräsidentin gewählt.

Was dann in Jonathan Franzens Roman »Die 27ste Stadt« geschieht, seinem Erstling, der 1988 in den USA erschien, sieht zunächst nach einem dieser für die achtziger Jahre typischen Wirtschaftskrimis aus. Denn seit die Inderinnen in der Stadt sind, wandelt sich dort das öffentliche Leben. Eine indianische Gruppe begeht eine Unzahl von terroristischen Anschlägen, bei denen Tote offensichtlich nur dank der hervorragenden Polizeiarbeit vermieden werden können, zugleich beginnen wilde Immobilienspekulationen und die bislang vetternwirtschaftlich zusammenarbeitenden örtlichen Wirtschaftsclubs zerfallen in zwei Lager – für oder gegen die Polizeichefin.

Diese wiederum unterhält eine kleine geheime Truppe von eingeschworenen Indern, welche die halbe Stadt abhört, erpresst oder auf die eine oder andere Weise in Verlegenheit bringt. S. Jammu jedenfalls, die Frau, die nach außen hin das Recht wahrt und ein Opfer rassistisch motivierter Unterstellungen ist, arbeitet hochkriminell.

Doch der Wirtschaftskrimi verblasst zusehends vor einem anderen Handlungsstrang. Martin Probst, ein deutschstämmiger, redlicher und eigensinniger Unternehmer, wird, da er diversen Wirtschaftsverbänden in der Stadt vorsteht und als einflussreich gilt, zu einem Hauptopfer der Jammuschen Intrigen – und mit ihm gleich seine Familie. Teil der Strategie der Polizeipräsidentin ist es nämlich, diejenigen, von denen sie etwas möchte, in eine, wie sie es nennt, »Krise« zu manövrieren, um sie leichter zu unüberlegten Handlungen und unklaren Geschäften verführen zu können.

Im Falle Probst sieht das so aus: Zunächst nimmt man dem ehrenwerten Unternehmer den geliebten Hund, indem man einen Autounfall vortäuscht. Der sterbende Hund in seinem Arm ist der Beginn des Zerfalls seiner Familie, doch Probst ahnt nichts davon. Dann soll die biedere, manchmal ein wenig heimlichtuerische Tochter Luisa verführt werden, doch sie verfällt selbst einem jungen, nicht eben zu den besten Kreisen der Stadt zählenden ehemaligen Mitschüler, mit dem sie wilde Ehe spielen möchte. Sie zieht aus.

Zurückgeworfen auf sich selbst, stehen sich nun die Eheleute Martin und Barbara Probst gegenüber, die bis vor kurzem noch eine Musterehe mit nur leichten, überbrückbaren Krisen führten. Jetzt aber, ohne die zu umsorgende Tochter, verlieren beide die Geduld und schließlich auch ihre Macht. Er über sein Geschäft, sie über das Haus und beide über sich selbst.

In die Idylle dringt das vor, was sie das »Perverse« nennen. Und plötzlich zeigt sich, dass es schon immer da war: Die Leser und Leserinnen erfahren, dass Barbara schon vor Jahren einen psychosomatisch bedingten Hörsturz hatte, und Martin ist unfähig, sie zu lieben.

Der Gärtner hingegen, Herr Mohnwirbel, macht seit langem heimlich Fotos von der Hausherrin. Probst gerät außer sich. »Er riss das Nacktfoto von der Wand und in Stücke. ›Das ist Schmutz, das ist pervers, hören Sie?‹ ›Das ist ihre Frau‹, sagte Mohnwirbel.« Und der Gärtner geht noch weiter: »Ich will ihnen was sagen, Martin Probst. Ich kenne keinen, der so arrogant ist wie Sie. Sie mit Ihren Vorstellungen von normal und pervers, richtig und falsch, gut und böse. Machen die Titten der Dame des Hauses Sie nicht etwa heiß, wenn sie ihr Handtuch aufhebt? Sie nennen das schmutzig und sind doch ohne Gott. Glauben Sie etwa, sie hat für andere Männer keine Augen? Und was bin ich dann? Kommen Sie, Martin Probst. Sagen Sie nicht, dass ich pervers bin.«

Wie in seinem preisgekrönten Buch »Die Korrekturen« ist auch in »Die 27ste Stadt« das Weihnachtsfest ein zentraler Bestandteil der Konstruktion, und auch die »27ste Stadt« erzählt in erster Linie vom Zerfall der Familien. Das Buch schildert einerseits plastisch die Goldgräberstimmung in den achtziger Jahren, diese Scheinwelt, die noch glaubte von Machern, also Männern abzuhängen, und die doch längst von Frauen »unterwandert« war, die ebenso wie die Inder und Indianer (im Englischen beides: the Indians) an die Macht zu gelangen versuchen.

»… überall Inder und Indianer, die Bomben legten, Entscheidungsträger herausforderten, die Presse in die Irre führten und mit Grundstücken spekulierten und den Verkehr lahm legten, Herolde und Furien zugleich, die auf den Pfaden des alten Indianerlandes daherstürmten«, heißt es in dem Roman. Die Westwelt dieser weißen Unternehmerherren wird nun ihrerseits kolonialisiert und einem neuen System, dem der intriganten Inderinnen und Inder, unterworfen.

Die Kolonialisierung der Kolonialisierer verlängert sich auch ins Private. Der Bauherr, der gute Patriarch, der Gewerkschaften verachtet, aber nach Tarif bezahlt, der Prinzipien hat und Freundschaften pflegt, verliert die Kontrolle auch daheim; Frau und Tochter, die kein Sohn hätte sein können, emanzipieren sich von dem, der kein »guter Fernsehvater« mehr ist, und kein liebender Vater, da er die Liebe nicht kennt. Zugleich aber können die beiden Frauen mit ihrer Emanzipation vom guten Patriarchen nichts anfangen, sie begeben sich auf die Suche nach einem neuen Herren.

Franzens Buch »Die Korrekturen« wurde überschwänglich gelobt und auch angesichts dieses Buches werden sich die Kritiker wohl überschlagen. So gut allerdings ist »Die 27ste Stadt« nicht. Es ist ein Unterhaltungsroman, spannend, derb, und insoweit genau geschrieben, wie sich das ein Unterhaltungsroman leisten kann.

Würde Franzen seine Figuren noch weiter ausbauen, würde er ihnen Tiefe geben und sie psychologisch erklären, so würde er mit Sicherheit ein größeres Publikum verprellen. Daher benutzt Franzen anstelle langwieriger, genauer Beschreibungen lieber einfache Konstruktionstricks, baut Gags ein und Knalleffekte, und wenn es bei ihm die obligatorische verwahrloste Alte gibt, ein klassisches Motiv, die den eh schon zerrütteten Probst in einer Shopping Mall verängstigt, so hat sie nicht den bösen Blick und keinen Sabberfaden am Mund, sondern singt gleich laut und uriniert dabei.

Diese Effekthascherei, mit der Franzen den Mangel an erzählerischer Genauigkeit zu kaschieren sucht, prägt leider den gesamten Roman. »Die 27ste Stadt« ist wie so viele Romane der neuen amerikanischen Erzähler gut gebaut, doch kommt er sprachlich und literarisch eben nicht über das Niveau einer zu lang gezogenen Short Story hinaus – was ja nicht wenig ist. Die Leserinnen und Leser jedenfalls werden von Franzen gut unterhalten.

Jonathan Franzen: Die 27ste Stadt. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, 670 S., 24,90 Euro