Lieber aus der Ferne

Michael Cunninghams Provincetown ist ein selten dröger Ort. Von Jan Süselbeck

Mit Ende 20 kam der spätere Pulitzerpreisträger Michael Cunningham (für »The Hours«, 1999) Anfang der achtziger Jahre erstmalig in das US-amerikanische Ostküstenkaff Provincetown. Ein siebenmonatiges Schreibstipendium, das das Fine Arts Work Center in der abgelegenen Stadt anbot, von der er vorher noch nie etwas gehört hatte, war für ihn »schlichtweg Rettung in höchster Not«.

Bis dahin hatte Cunningham »zwei Kurzgeschichten veröffentlicht und mehrere Romane angefangen, wie sie junge Männer schreiben, die der Leserschaft beibringen wollen, wie man leben soll«. Mit dieser anmaßenden Attitüde fuhr er schlecht. »Ich wurde bald dreißig und hatte noch nichts erreicht, was wenigstens meine Mutter als Erfolg hätte bezeichnen können. (…) Zum ersten Mal konnte ich mir vorstellen, dass ich ein Versager war.«

Nun zog der junge Autor an die Spitze der schmalen Landzunge Cape Cod. Sichelförmig im Atlantik vor Massachusetts gelegen, war sie der einstige Ankunftsort der ersten Pilgrim Fathers. Provincetown wurde hier als eine der ältesten Städte Amerikas bereits im Jahr 1720 gegründet und avancierte seit dem 19. Jahrhundert phasenweise zum begehrten Refugium für berühmte Maler und Schriftsteller. Eugene O’Neill, Tennessee Williams, John Dos Passos und Norman Mailer lebten bzw. leben hier. »Provincetown ist und war schon immer ein Zufluchtsort für Exzentriker, in etwa so, wie andere Orte Vogel- oder Naturschutzgebiete sind«, erfahren wir in Cunninghams persönlicher Hommage an diesen legendären Ort, die nun unter dem Titel »Land’s End. Eine Spaziergang in Provincetown« in deutscher Übersetzung erschienen ist.

Vor diesem Hintergrund ist es im Buch zunächst wohltuend zu lesen, wie der junge Autor von seiner Ankunft Ende September bis zum Stipendiumsabschluss im Mai des folgenden Jahres auf diese Schriftstelleridylle reagiert: mit weitgehender Tatenlosigkeit. Der Stipendiat muss nach wenigen Tagen mit Entsetzen feststellen, dass das einzige Kino, fast alle Kneipen und Geschäfte im Ort schließen, wenn die Touristen im Herbst und Winter ausbleiben und der Winterschlaf Provincetowns beginnt. »Na schön, dachte ich. Keinerlei Ablenkung. Ich werde sieben Monate lang nur schreiben und lesen.«

Daraus wird nichts, und es ist fast wie in einem der Romane Thomas Bernhards, wenn sich Cunningham erinnert: »Ich schrieb nichts, obwohl ich es nach besten Kräften versuchte. Man war mir auf die Schliche gekommen. Jetzt, da ich die idealen Voraussetzungen hatte, stellte ich fest, dass ich überhaupt nicht schreiben konnte.«

Wie der Autor dieses Scheitern als Initiation seiner Beziehung zur einsamen Stadt am Atlantik beschreibt, gehört noch zu den besten Momenten des Buchs: »An einem besonders trostlosen Februarabend saß ich auf der kratzigen Decke meiner Bettcouch, einen Wodka in der Hand, schaukelte vor mich hin, während der Fernseher lief, und schwor mir, falls ich die nächsten Monate überlebte, würde ich Provincetown verlassen und nicht nur nie mehr zurückkehren, sondern auch nie wieder in eine Stadt ziehen, die weniger als eine Million Einwohner hatte.«

Doch bereits nach diesem ehrlichen Bekenntnis verliert »Land’s End« rapide an literarischem Reiz. Denn natürlich »verliebte« sich Cunningham dann doch noch in das berühmte Örtchen, lebt dort bis heute und hebt nunmehr an, uns mit einer lobhudelnden Sonderform des Reiseführergenres zu behelligen.

Cunningham versucht einen merkwürdigen Spagat zwischen farblich nuancierter Naturbeschreibung und pfiffigem Tourismusalmanach. Lakonische Beschreibungen der Topografie, des Tag- und Nachtlebens Provincetowns wechseln sich mit genauen Beobachtungen der Flora und Fauna, vor allem aber des Meeres und seiner vielfältigen Erscheinungen ab.

Cape Cod ist berühmt für sein intensives Licht, weshalb die Gegend auch so viele Maler anzog. »Das Licht wird vom Wasser geprägt; es fällt nicht nur vom Himmel, sondern wird auch vom Wasser zurückgeworfen, so dass man das Gefühl hat, als stünde man zwischen zwei riesigen Spiegelflächen. (…) Wenn man sich an einem sonnigen Tag dorthin begibt, meint man, man hätte sein Leben lang eine getönte Brille getragen und sie erst jetzt abgelegt.«

So einfühlsam derlei Auslassungen auch sein mögen, so entbehrlich ist doch das meiste, was uns der Autor im Lauf seines schmalen Buchs mitteilen zu müssen glaubt. Cunningham tischt dem Leser als begeisterter Wahlbürger »P-Towns« die erstaunlich charakterlose Küche der Region auf und beschreibt das Krimskramssortiment obskurer Tante-Emma-Läden. »Es ist zum Beispiel schwierig, dort eine anständige Haarbürste zu bekommen, gutes Briefpapier oder ein paar schicke Schuhe.« Auch liefert er mitunter seltsam akribische Wegbeschreibungen, die ein Publikum, das nicht gleich um die Ecke wohnt, nun wirklich nicht interessieren dürfte. Selbst die örtlichen »Pinkelmöglichkeiten« lässt er dabei nicht aus.

Aus der Urlaubsprovinz der Bostoner Upper Class wird augenzwinkernd eine Oase des »anything goes«. »Sie können tun, was Sie wollen«, jubelt Cunningham immer wieder in allen ihm zur Verfügung stehenden Tonlagen. Den dorftypischen Klatsch kennt man allerdings auch hier: »Die diversen Selbsthilfegruppen in der Stadt haben ihre liebe Not mit Leuten, die gar nicht abhängig sind, aber es behaupten, damit sie zu den Meetings kommen und erfahren können, was los ist.«

Was Cunningham in Provincetown zum Lokalpatrioten gemacht hat, ist die angebliche Toleranz und Offenheit der Bewohner, von denen nicht wenige aus der Schwulen- und Lesbenszene kommen. Doch vor dem bacchantischen Treiben in den Dünen des Strandes »Herring Cove« warnt er seine prüden Leser trotzdem: »Die Männer gehen in dieses Grasland, um es miteinander zu treiben, und falls einem nichts an Sex mit Fremden liegt oder einen der Anblick anderer stört, die gerade zugange sind, sollte man das Graslabyrinth meiden.«

Auf das Reich der Männer folgt das Strandrevier der Frauen, deren Anatomie den Autor zu besonderer Formulierlust und zu plötzlichen Metaphernhäufungen anregt: »Hier gibt es Frauen, deren Brüste fest wie Birnen sind. (…) Hier gibt es Frauen mit majestätischen Monden, tropisch Pink, mit feinen, blaugrünen Äderchen marmoriert und mit cremig-braunen, tief liegenden elliptischen Warzenhöfen.«

In seinem manchmal etwas blumigen Stil nähert sich das Buch Provincetown über historische, klimatische und geografische Informationen. Der Text springt patchworkartig zwischen den verschiedenen Perspektiven hin und her; es werden schlechte Gedichte zitiert und allerhand schale Anekdoten eingeflochten. Cunningham schreitet die Wege zu persönlichen Lieblingsorten wie dem Naturhafen Hatches Harbor ab, denen er gerne eine leicht übersinnliche Aura verleiht: »Ich kann nur so viel sagen, dass es ein Ort ist, der eine große Ruhe ausstrahlt, und dass man, wenn man dort gewesen ist und eine Stunde oder mehr verweilt hat, auf dem Rückweg das Gefühl hat, man wäre viel länger und viel weiter weg gewesen.«

Alles in allem bleibt »Land’s End« ein enttäuschendes Buch. Ratlos legt man dieses krude Sammelsurium aus Aids-Pathos (»Billy«), frauenzeitschriftentauglichem Wohlfühlkitsch und arriviertem Bohème-Hedonismus aus der Hand. Orte, in denen sich heute Leute wie Elton John und Barbara Streisand treffen, taugen nicht mehr zur Fortschreibung literarhistorischer Outcast-Legenden. Cunningham hat dem Mythos Provincetown mit seinem hymnischen Buch, wenn überhaupt, zur endgültigen Dekonstruktion verholfen.

Die Stadt ist wohl irgendwann selbst zur Metapher, zur Projektionsfläche längst vergessener Zeiten und Legenden geworden, die nur noch in den Köpfen seiner verzückten Bewohner herumspuken – oder eben in den Büchern, die den Ort durch die Jahrhunderte beschrieben haben. Die Stadt liegt selbst im Nirgendwo, das Cunningham an dem fernen Leuchtturm von Wood End festmacht: »Ich bin nie dort gewesen und ich will auch nicht hin. Ich weiß (…), dass er von nahem nur ein alter Zementturm ist, von dessen rissigem Putz die Farbe abblättert, dessen Betonsockel mit Möwenkot bespritzt ist«, heißt es hier. So lassen auch wir Provincetown »lieber in der Ferne stehen, wo sein Zauber ungebrochen ist, wie ein Bild aus den Büchern von Virginia Woolf.«

Michael Cunningham: Land’s End. Ein Spaziergang in Provincetown. Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt. Luchterhand Literaturverlag , München 2003. 192 S., 18 Euro