»Wir werden täglich radikaler«

Helmut Angelbeck

Etwa 100 000 Menschen, viel mehr als erwartet, beteiligten sich am vergangenen Samstag an der Demonstration gegen den Sozialabbau der rot-grünen Bundesregierung in Berlin. Unter den Demonstranten befanden sich auffällig viele Erwerbslose und Erwerbsloseninitiativen. Helmut Angelbeck gehört der Gewerkschaftlichen Arbeitsloseninitiative Darmstadt (Galida) und dem Erwerbslosenausschuss von Verdi an. Nach der Demonstration sprach Stefan Wirner mit ihm.

Sind Sie mit der Demonstration zufrieden?

Es gab ja die Befürchtung, dass es heute ein Flop wird. Wenn man es nun mit dem 17. Mai vergleicht, der Verdi-Demo, dann ist das kein Flop gewesen. Ich habe wesentlich mehr Erwerbslose auf der Straße gesehen als jemals zuvor in der Bundesrepublik. Das ist eine Steigerung.

Natürlich reicht das noch nicht aus, um etwas zu bewegen, aber es ist noch steigerungsfähig, wenn auch vielleicht nicht in Berlin. Man kann nicht jedes Wochenende nach Berlin fahren, schon allein wegen der Kosten.

Aber viele der so genannten Reformgesetze haben den Bundestag schon passiert, wie etwa Hartz III.

Da ist überhaupt noch nichts durch. Viele Teile sind zustimmungspflichtig im Bundesrat. Hier werden die entscheidenden Nägel eingeschlagen, im Vermittlungsauschuss, und da werden dann vielleicht ganz neue Mehrheiten entstehen. Schröder wird auf seine Abweichler verzichten und die Gesetze mit den Stimmen der CDU und der FDP verabschieden. Da werden die Karten neu gemischt und auch die Abweichler werden sich bekennen müssen. Ich bin gespannt, wie die Sozialdemokraten um Ottmar Schreiner sich verhalten werden.

Jeder Arbeitslose, der auf die Straße geht, hilft, dass die Entscheidung in unserem Sinne gefällt wird. Es geht nur noch über die Straße. Doch wenn die 4,5 Millionen Arbeitslosen den Arsch nicht bewegen und keinen Druck machen, dann sind sie verloren.

Wie fanden Sie die Auseinandersetzung bei Verdi vor der Demonstration, in der es darum ging, ob es einen Aufruf zur Teilnahme geben solle?

Verdi ist eine große Organisation, da gibt es natürlich viele verschiedene Stimmen. Ich kann nur sagen: Verdi-Südhessen hat ohne zu zögern und ohne förmlichen Antrag den Bus bezahlt, ohne diese Unterstützung hätten wir nicht nach Berlin fahren können.

Außerdem hat Verdi ja doch noch die Kurve gekriegt auf dem jüngsten Bundeskongress und den Beschluss gefasst, die Demonstration zu unterstützen. Verdi hatte ja am 17. Mai zu der Demonstration in Berlin aufgerufen und fiel damit auf den Bauch. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Aber ich bin momentan mit meiner Gewerkschaft im Großen und Ganzen zufrieden.

Nach der Demonstration fahren die Leute wieder nach Hause und alles ist wie vorher.

Die nächsten Aktionen stehen bereits an. Wir haben ja vor kurzem das Büro der Grünen in Darmstadt besetzt und uns eine Strafanzeige eingehandelt wegen Körperverletzung. (Jungle World, 45/03) Wir sind dabei, militanter zu werden, radikaler zu werden, jeden Tag. Es gilt der alte Spruch: Not kennt kein Gebot. Diese Not rückt jetzt bei den Arbeitslosen immer näher, deswegen kennen wir auch keine Gebote mehr.

Gibt es, was die Anzeige betrifft, schon etwas Neues?

Die grüne Stadtverordnete Iris Bachmann, mit der ich die Rangelei hatte, ist offenbar kurz davor, ins Koma zu fallen. Am Ende der Aktion war sie noch kerngesund. Später bekam sie dann Schmerzen und musste Medikamente nehmen. Am nächsten Tag stand sie unter Schock und ging eine Woche auf Kur. Sie treibt ganz einfach die Kosten nach oben. Wie das Gericht schließlich entscheidet, muss man sehen. Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand, wie es heißt. Es gibt Zeugen, die gesehen haben, dass eigentlich nichts passiert ist und dass es eine Rangelei war, wie sie auch im Sommerschlussverkauf vorkommt.

Viele Menschen trauen sich solche Aktionen nicht zu.

Nun, einerseits macht das nun viel Arbeit und Mühe, andererseits ist man auch im Gespräch. In Darmstadt ist es das Stadtgespräch gewesen, dass die Arbeitslosen nicht davor zurückschrecken, eine Stadtverordnete nochmal am Revers zu packen und zu rütteln, wenn die an unsere Transparente rangeht. Es wird ein Stück härter, das ist an allen Ecken zu spüren. Man hat auch während der Demonstration gesehen, dass die sensiblen Bereiche, also Banken, Versicherungen und Zeitarbeitsfirmen, von der Polizei gesichert werden. Die richten sich schon darauf ein, dass wir militanter werden.

Wie fanden Sie die Mischung der Leute, die heute so demonstriert haben?

Ich war angenehm überrascht, sowohl von der Anzahl als auch von der Vielschichtigkeit. Vor allem hat es mich gefreut, dass Attac kein Übergewicht hatte. Bei allem Respekt vor Attac und seinem segensreichen Engagement, sie werden die soziale Wende nicht bewirken, das müssen die Betroffenen selbst leisten.

Ich habe heute viel mehr Betroffene gesehen als bei den vergangenen Demonstrationen. Ich habe sogar Kumpels aus meiner Heimat gesehen, aus dem Ruhrbergbau, von der IG Bergbau Chemie Energie, also von einer verrufenen Gewerkschaft, die sich überhaupt noch nicht geäußert hat zur Agenda. Hubertus Schmoldt, der Vorsitzende, sitzt ja jeden Abend am Kamin bei Schröder. Aber selbst diese Kumpels waren hier in ihrer Berufskleidung und gaben sich als Bergleute zu erkennen, und das hat mich gefreut.

Hans-Christian Ströbele von der Grünen war ja auch da. Wie finden Sie es, wenn hier rot-grüne Politiker auftauchen?

Ströbele wohnt ja in Berlin, der hat es nicht weit. Ich hab’ nichts dagegen, dass er da mitmacht. Aber Ströbele hat keine Ahnung, worum es geht. Er weiß nicht, was es bedeutet, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen. Bei aller Wertschätzung für Ströbele: Von sozialen Themen hat er keine Ahnung. Er müsste sich mal einarbeiten. Er hat ja auch am Ende allem zugestimmt. Nur Werner Schulz von den Grünen hat sich enthalten, was ja auch keine richtige Ablehnung ist. Eine Ablehnung mit der Faust in der Tasche.

Gibt es konkrete Pläne für künftige Aktionen?

Jetzt steht erst mal der 18. November, der »Tag der Verweigerung«, in Hessen an. Da wird es gegen die Politik von Roland Koch gehen. Ich denke, es müssen Aktionen folgen, bei denen es auch mal rappelt im Karton. Es muss ja nicht gleich Sachbeschädigung sein, es muss nicht gleich Verletzte geben, aber es muss was klirren, damit die Leute wach werden. Latschdemos, so schön sie sind für das Gemeinschaftsgefühl, bewegen erst mal nichts.

Erst wenn die glaubwürdige Bedrohung von viereinhalb Millionen Menschen rüberkommt, dann werden sich Schröder und Fischer umsehen. Fischer hat selbst mal im hessischen Landtag zu Manfred Kanther, als der noch Innenminister war, gesagt: Herr Innenminister, wenn die Arbeitslosen mal aus dem Ruder laufen, dann wird es so viel Polizei nicht geben im Lande. Und so muss es kommen. Die Erwerbslosen müssen zumindest mal die Kulisse aufbauen, was passieren würde, wenn sie die Kreuzungen sperren, mal einen Stromkasten abhängen oder so.

Wenn aber nichts passiert, dann werden wir schlechter leben. Es gibt ja heute schon Obdachlosigkeit, es gibt Leute, die keine Gesundheitsversicherung haben. Nach der Agenda betrifft es noch mehr Menschen. Und darum geht es.