Wunder 47

Der englische Fußball nach dem Zweiten Weltkrieg

Welche Funktionen der Fußball in totalitären Systemen oder während eines Krieges haben kann, wurde von Sporthistorikern und -journalisten in den letzten rund zehn Jahren in respektablem Umfang analysiert. Wie sich der Fußball aber in einer Nachkriegsordnung entwickelt, wie er gesellschaftliche Stimmungen auslöst, schürt oder widerspiegelt – das hat bisher selten im Blickpunkt gestanden.

Die Propagandaschmonzette »Das Wunder von Bern« trägt zur Klärung der Frage wenig bei, Thomas Taws jüngst erschienenes Buch »Football’s War & Peace. The Tumultous Season of 1946–47« aber umso mehr. Fußball sei niemals so wichtig gewesen für eine »geplagte und mutlose Gesellschaft« wie in jener Saison, schreibt Taws in der Einleitung, und auch wer durch derlei Pathos abgeschreckt ist, wird am Ende nicht bestreiten können: Was sich in England seinerzeit über Monate abspielte, ist in vielerlei Hinsicht wundersamer als das so genannte Wunder von Bern.

Die Lektüre ist zwar mühselig, weil Taw mit allzu buchhalterischem Ehrgeiz Ergebnisse, Zuschauer- und sonstige Zahlen referiert, aber es gelingt ihm dennoch, anschaulich zu beschreiben, warum die Menschen so große Hoffnungen mit der ersten Nachkriegssaison verknüpften. Der übergroße Wunsch nach Normalität und Ablenkung zeitigte nicht nur bizarre Begebenheiten – Norwich City etwa hatte noch als Letzter der Third Division bis zu 30 000 Zuschauer –, sondern mündete zuweilen auch in den Irrsinn: Bei katastrophalen Witterungsverhältnissen füllten Fans die maroden Arenen oft bis über die zulässige Kapazität hinaus.

Weil den Klubs das Geld fehlte, um die Spielstätten zu renovieren, oder die Behörden dies nicht genehmigten, waren Katastrophen programmiert. Im Frühjahr 1946 kamen im Burnden Park zu Bolton 33 Menschen zu Tode; sie erstickten oder wurden zerquetscht. Das Desaster unterminierte zwar die moralische Aufrüstungskraft des Fußballs, weil, wie Taw feststellt, im Burnden Park mehr Menschen gestorben waren als in ganz Bolton während des Krieges. Der Run in die Stadien ließ aber nicht nach.

Im März 1947 verbot die Regierung Wochentagsspiele, um die industrielle Produktion zu stärken. Einige Menschen empfanden diese Maßnahme als »hitleristisch«, so Taws. Eine Zeitung schrieb damals: »Ein Fremder könnte denken, wir hätten den Krieg verloren.«

Dass die Fußballer von der Nachkriegsdepression mindestens so stark betroffen waren wie alle anderen, interessierte das Publikum wenig. Die Spieler hatten als perfekte Dienstleister für den Emotionshaushalt der Fans zu funktionieren, obwohl sie, die Kicker, keineswegs am Zuschauer-Boom partizipierten. Unzählige von ihnen hatten keine Wohnung und nicht genug zu essen. Schlechte Voraussetzungen für Spitzenfußball. Aber offensichtlich ist das Verhältnis zwischen Fans und Spielern immer irrational, egal, ob letztere nun arm sind und sich quälen oder »Scheißmillionäre«, denen mit dem Schlachtruf »Wir wollen euch kämpfen sehen« nicht beizukommen ist. So hat »Football’s War & Peace« auch eine aktuelle Komponente.

rené martens

Thomas Taw: Football’s War & Peace. The Tumultous Season of 1946–47. Desert Island Books, Westcliff-on-Sea, 2003, 240 S. 16,99 Pfund