Dagegen schwimmen

Fahrt schwarz und geht klauen! Widerstand fängt mit sozialer Praxis an. von ingo stützle

Anfang der neunziger Jahre prophezeite der Historiker Karl-Heinz Roth die Wiederkehr der Proletarität. Er wertete es als einen Pluspunkt, »dass wir Linke im Gegensatz zu den sechziger und siebziger Jahren seit einiger Zeit von den sozialen Umschichtungen direkt betroffen sind. (…) Die Kluft zwischen subjektiver Klassenlage und sozialistischem Anspruch hat sich im Sog der allgemeinen Reproletarisierung weitgehend aufgelöst.«

Auch wenn das analytische Moment heute noch stimmen mag, wurde Roths Optimismus enttäuscht. Die bisherigen Beiträge zu dieser Disko-Reihe bestätigen das: Kritik der Arbeit und Kritik an der Volksgemeinschaftsideologie stehen im Mittelpunkt. Einer homogenen Masse nicht genau benannter Akteure werden die eigenen Weisheiten entgegengehalten. So berechtigt manche Kritik ist, so verfehlt ist sie, wenn unklar bleibt, welche konkrete Praxis welcher Akteure gemeint ist. Was bleibt, ist identitäre Selbstvergewisserung.

Einer Fragestellung liegt eine bestimmte Problematik zugrunde, die existierende Schwierigkeiten zum Ausdruck bringt. Der Knackpunkt ist also, welche Problematiken sich innerhalb der linksradikalen Debatte als hegemoniale durchsetzen und die Fragestellungen dominieren können. Was bedeutet es, wenn nach den theoretischen Grundlagen eines möglichen Widerstands gefragt wird, wie im Einladungstext zur Veranstaltungsreihe »work hard, die young«? Steht hier nicht einiges auf dem Kopf? Sollte nicht die Praxis die Fragestellung vorgeben, die mit unterschiedlichstem theoretischen Instrumentarium auf verschiedenen Abstraktionsebenen zu beantworten ist? Andernfalls verkommt Theorie zu einer Legitimationsbeschaffung, werden politische Kriterien mit theoretischen Kontrollsätzen verwechselt.

Als Antwort auf die Theoriefeindlichkeit der autonomen Bewegung wird aus allen Rohren mit theoretischen Kriterien und Weisheiten geschossen. Während die Autonomen bereits das richtige Leben unter falschen Verhältnissen praktizieren wollten und sich oft in linker Moral verloren, hat sich der zentrale Ansatzpunkt hin zu Bewusstseinsformen und Ideologien verschoben. Die zentrale Form politischer Praxis ist hierbei die Aufklärung. Erst mit dem richtigen Verständnis der deutschen kapitalistischen Verhältnisse, so der Tenor, kann ein emanzipatorischer Prozess entstehen. Es sind nicht die Praxen und die strukturierten Handlungsmuster, an denen angesetzt wird, sondern das Bewusstsein. So verkommt ein gut gemeinter Materialismus schnell zu Idealismus, und aus Ideologiekritik wird eine moralische Linke, die weiß, was gut und was böse ist.

Eine »experimentelle Praxis« versucht dagegen, an sozialen Praxen anzusetzen und damit einen Prozess der Erfahrungen einzuleiten. Dies wird in weiten Teilen der radikalen Linken konsequent gemieden. Lieber bewegt man sich auf ideologisch gesichertem Terrain. Ein Theoretisieren im leeren Raum über das Wenn und Aber und den Kapitalismus im Allgemeinen hat die Richtschnur und den Gegenstand politischer Reflexion bereits verloren: die soziale Praxis.

Das bedeutet nicht, dass theoretischen Fragestellungen die Autonomie abgesprochen werden soll. Es soll ihnen nur die Relevanz für die soziale Praxis strittig gemacht werden. Für eine linke Praxis sind andere Fragestellungen nötig, die theoretische Fragestellungen nicht ersetzen, ihnen aber einen anderen Stellenwert zuweisen.

Sogar zu den gesellschaftlichen Bedingungen und dem Kontext theoretischer Praxis wird auffällig geschwiegen. Zum Beispiel werden die Nischen und Möglichkeiten in den Universitäten schon seit Jahren beschnitten. Aber selbst hier setzt kein Prozess ein, der Räume und Freiheiten für radikale Kritik verteidigt oder sich aneignet. Vielmehr herrscht auch hier revolutionärer Autismus. Zu glauben, radikale theoretische Kritik funktioniere unabhängig von sozialen Bedingungen und einem Resonanzboden, der mehr und mehr wegbricht, ist reichlich naiv.

Das bornierte Verständnis der Post-Antifa-Linken, Praxis mit Aktionen gleichzusetzen, zeugt von Abgründen, die nicht einmal mit der Lektüre von Marx’ Feuerbachthesen überwunden werden können. Eine soziale Praxis, die in einem kollektiven Prozess den herrschenden, in Strukturen verankerten Zwängen eigene, widerständige Formen des Sozialen in allen Lebens- und Arbeitsverhältnissen entgegenstellen will, wird mit Effekt heischenden Aktionen verwechselt. Wenn soziale Kämpfe überhaupt Thema sind, dann nicht dort, wo sie tatsächlich stattfinden: im Betrieb, in der Uni, in der Schule, auf dem Sozial- oder Arbeitsamt oder eben zwischen allen Fronten. Klassenkampf hat nichts mit dem eigenen Leben zu tun, sondern ist ein Hobby: auf G 8-Gipfeln, am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg oder in den Texten der Lieblingsband.

»Für eine linke Strömung (FelS)« hat in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, Selbstorganisierungsprozesse anzuschieben oder zu unterstützen. Damit waren Erfahrungen des Scheiterns verbunden, und wir sahen uns mit verschiedener Kritik konfrontiert. Nicht aus jeder konnten wir etwas lernen.

Anfang 1999 initiierte FelS einen Existenzgeldkongress. Schon damals wurde uns vorgehalten, wir würden auf der Ebene der appellativen Praxis stecken bleiben. Die Forderung sei zwar »nicht falsch«, aber kein Ausdruck eines sich artikulierenden Bedürfnisses einer sozialen Praxis. Während wir mit dieser Kritik heute etwas anfangen können und versuchen, ihr und den eigenen Erfahrungen gerecht zu werden, hilft die Kritik, dass man mit der Forderung in kapitalistischen Formbestimmungen verhaftet bleibt, so richtig wie banal sie ist, nicht weiter.

Ein Ansatz, der sich im Anschluss an die Konferenz entwickelt hat, fand in der Call-Center-Offensive (CCO) eine Praxis. Nach dem Motto »Wir sind die ArbeiterInnenklasse!« versuchte die Gruppe, eine klassenkämpferische Praxis in Callcentern zu entwickeln. Während viele Linke Angst davor hatten, sich in reformistischer Kleinarbeit zu verlieren und den Versuch ablehnten, wurde gleichzeitig, wenn es Schwierigkeiten am Arbeitsplatz gab, die ganze Sache an die Profis aus den Gewerkschaften delegiert. Und zwar durchaus von gestandenen Antifas. Die Erkenntnis, dass der Kapitalismus ein soziales Verhältnis ist, hat offenbar nichts mit dem Bedürfnis zu tun, an konkreten Verhältnissen – zum Beispiel den Arbeitsverhältnissen – anzusetzen.

Alle Erfahrungen der letzten Jahre, auch der Versuch, an der globalisierungskritischen Bewegung anzusetzen, deuten auf eines hin: Es müssen konkrete Praxen entwickelt werden. Praxen, die als konkretes Bedürfnis gemeinsam eine Existenzgeldforderung aufstellen können, Praxen, die in Sozialforen und sozialen Zentren vernetzt werden und zusammen einen politischen Prozess eingehen können. Aus den genannten Erfahrungen und lokalen Erfahrungen in Berlin haben wir versucht zu lernen und mit anderen Gruppen zusammen ein neues Projekt gestartet, das bereits in anderen Städten aufgegriffen wurde.

Zu welchen Überlegungen man kommen kann, wenn es kaum eine soziale Praxis gibt, in die interveniert werden kann, und man trotzdem diese Praxis einzelnen Aufsehen erregenden Aktionen vorzieht, soll kurz an der Kampagne »Berlin umsonst!« aufgezeigt werden. Die Idee dabei ist, an individuellen Praxen anzusetzen, die Regelverstöße darstellen und individuellen Unmut und Widerstand ausdrücken: schwarzfahren, im Schwimmbad über den Zaun klettern, Eintritt erschleichen oder klauen. Es gibt auch Praxen, die wir nicht mitbekommen, wie z.B. individueller Mietstreik.

Diese Praxen sind weder besonders politisch, noch weisen sie eine radikale Perspektive auf. Zumal hier wie bei anderen Aneignungspraxen viele ausgeschlossen werden: RollstuhlfahrerInnen können nicht über Zäune klettern und Illegalisierte sollten besser nicht schwarzfahren. An diesen Praxen kann aber politisch angesetzt werden: Wird das Schwimmbad in einer kollektiven Aneignungsaktion genommen, wird ein kollektives Bedürfnis artikuliert und eine Solidarität praktiziert. Ein schönes Leben wird nicht auf den Kommunismus vertagt, sondern der Anspruch im Hier und Jetzt formuliert. Durch die praktische Infragestellung der Zugangskriterien und Zwänge wird der Spardiskurs durchbrochen. Themen werden dem Reich der Notwendigkeiten entzogen. In der eigenen Praxis werden aus einer revolutionären Perspektive Mängel nicht nur sichtbar, sondern erfahrbar. Spätestens dann, wenn die Polizei einen Kinofilm anhält, weil einige nichts davon halten, eine Karte zu lösen. Es geht darum, mit den Grenzen offensiv umzugehen. Die These, die hier zugrunde liegt, ist, dass die Menschen, die angesprochen werden und mit denen ein sozialer Prozess entwickelt werden soll, nicht die Einsicht haben, dass der Kapitalismus nicht zu Tode reformiert werden kann.

Viele Praxen haben sicherlich keine gesellschaftspolitische Perspektive, gerade deshalb, weil im Kapitalismus die Art und Weise, wie der Reichtum produziert, verteilt und der Zugang reguliert wird, nicht beliebig transformierbar ist. Nur eine aktuelle Form wird in Frage gestellt. Mit dieser Praxis wird also mit der Kritik an einer herrschenden Form von Aneignung, Produktion und Verteilung ein Raum für die Diskussion eröffnet, die nach Kriterien fragt, wie es anders sein könnte. Damit hat eine Debatte über die dem Kapitalismus zugrunde liegenden konstituierenden Strukturen begonnen.

Auf die Frage der Moderation dieses Abends, was für einen Redakteur der Jungle World Kritik der Arbeit bedeuten könnte, antwortete einer der Referenten, Ernst Lohoff, ein inhaltlicher Schwerpunkt der Kritik der Arbeit in der Zeitung könne dem schon gerecht werden. Dass das trotzdem eine 60-Stunden-Woche bedeutet, ist wohl keine Problematik, die eine Fragestellung für theoretische Reflexionen strukturiert. Das ist das Problem.

Die Thesen sind die schriftliche Fassung eines Vortrags auf der Jungle World-Veranstaltung »work hard, die young – zum Abbau des Sozialstaats« am 29. Oktober in Berlin.

Ingo Stützle ist organisiert bei »Für eine linke Strömung (FelS)«.