Klassenziel erreicht

Über den Rätekommunisten Willy Huhn und seine Lesart der Sozialfaschismusthese. Von Clemens Nachtmann

Die Sozialfaschismusthese ist unter Linken die übelst beleumundete argumentative Figur der KPD und darüber hinaus der gesamten alten Arbeiterbewegung – nicht einmal zu Unrecht, wenngleich aus den falschen Gründen. Sie gilt als Inbegriff von Verblendung und Sektierertum, während ihr doch in Wahrheit der entgegengesetzte Vorwurf zu machen ist: dass sie einer Volks- und Massenfreundlichkeit entsprang, die den Gehalt der These immer schon desavouierte, und dass deshalb das, was den »Sozialfaschismus« der SPD hätte begründen können, nicht konsequent durchdacht und ausgesprochen werden konnte. Denn hätte die KPD ihre Einsichten ernst genommen, dann wäre sie auf die Identität ihrer Vorstellungen vom proletarischen Zukunftsstaat mit der Programmatik der Sozialdemokratie gestoßen und hätte sich selber unter die »Sozialfaschisten« einreihen können.

Tatsächlich zu begründen, warum die Sozialdemokratie eine »national-sozialistische« Organisation war, wie Willy Huhn mit Karl Kautsky sagt, und darüber hinaus auch die letztgenannte Konsequenz nicht zu scheuen, dazu bedurfte es keiner Genialität, sondern der Fähigkeit, vom geschichtsmetaphysischen Hokuspokus der alten Arbeiterbewegung die Fähigkeit zu ungegängelter Erfahrung sich nicht abmarkten zu lassen.

Es war ein nach eigener Einschätzung zum Eigenbrötlertum neigender marxistischer Autodidakt, der als gerade mal 30jähriger eine Sozialfaschismusthese eigener Art formulierte, bei deren Lektüre biederen Sozialdemokraten, kreuzbraven Parteikommunisten und anderen Linken noch heute die Luft wegbleiben dürfte. Im Jahr 1939 verfasste Willy Huhn, von dem hier die Rede ist, ein knapp 80seitiges Selbstverständigungspapier, worin er den Anteil der staatssozialistischen Arbeiterbewegung am Zustandekommen des Nationalsozialismus untersucht und das ihm als Grundlage für den 1952/53 entstandenen Aufsatz »Etatismus – ›Kriegssozialismus‹ – ›Nationalsozialismus‹ in der Literatur der deutschen Sozialdemokratie« diente.

Wie Huhn nachweist, war die Sozialdemokratie vielleicht anfangs eine halb freiwillige, halb unfreiwillige Geburtshelferin des totalen, schließlich nationalsozialistischen Staates. Als sie aber spätestens 1914 ihr staatssozialistisches Wesen praktisch bezeugte und sich programmatisch unumwunden zu ihm bekannte, da hatte sie sich dafür entschieden, die Rekonsolidierung der kapitalistischen Wertvergesellschaftung aktiv und bewusst mitzutragen. Als solche Trägerin einer gesellschaftlichen Konstellation, in der, wie Huhn einen sozialdemokratischen Evergreen ironisiert, zwar nicht das »allmähliche Hineinwachsen in den Sozialismus«, wohl aber das Hineinwachsen in den Nationalsozialismus auf der Tagesordnung stand, musste die Sozialdemokratie zu einer Protagonistin der allgemeinen Faschisierung avancieren.

Die Äußerungen von Mehrheitssozialdemokraten, mit denen diese die Kriegswirtschaft als bahnbrechenden Fortschritt hin zum Sozialismus interpretierten und die Huhn in quälender Dichte ausbreitet, sprechen derart für sich, dass man sie gar nicht kommentieren mag. Und diese Verstaatlichung der Arbeiterbewegung endete nicht 1918, sondern setzte sich unter dem Stichwort der »Wirtschaftsdemokratie« während der so genannten Weimarer Republik fort. Was die Rolle der Sozialdemokratie darin anbelangt, so ist für Huhn klar: »Wenn der Bolschewismus der Sozialdemokratie ›Sozial-Faschismus‹ zum Vorwurf gemacht hat, so hat er also … gar nicht einmal so sehr Unrecht, leider trifft ihn aber diese Kennzeichnung auch wieder selbst!«

Huhn zieht daher ein bitteres Fazit der historischen »Leistung« der Arbeiterbewegung als ganzer: »So hat der Marxismus bisher seine höchste Leistungsfähigkeit nicht eigentlich im Dienste jener proletarischen Klassenziele verrichtet, für die er eigentlich erarbeitet wurde, sondern im Dienste nationalrevolutionärer Ziele, die Marx und Engels im imperialistischen Zeitalter auf das Entschiedenste bekämpft hatten. Seine wissenschaftliche Stärke und die Autorität seiner Begründer waren gerade gut genug, um mit ihrer Hilfe die Arbeiter verschiedener Nationen für nationalrevolutionäre Ziele einzuspannen, die man marxistisch als proletarische Klassenziele darstellte. Darum hat der Marxismus bisher mehr für die Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung getan als für ihre Zerstörung!«

Dass also der Faschismus stark wird durch seine vermeintlichen Opponenten, die ihm die Konzepte vorformulieren, noch bevor es ihn eigentlich gibt, das ist eine auch aktuell immer wieder bestätigte zentrale Einsicht Huhns. Wenn aber die »proletarischen Klassenziele« erst einmal in den »nationalrevolutionären Zielen« aufgegangen sind, dann sind sie unrettbar verdorben. Darin liegt die Begrenztheit Willy Huhns und des Rätekommunismus insgesamt und darin ist über ihn hinauszugehen.