Sleeper Cell

Hauptquartier, Meldung 3 259

K9 ist tot. Es bleibt wenig Zeit. München wird uns K4 und K7 schicken. Destruktionsdruck steigt: Officials concerned about holiday terror threat … Hannah hat alle Möglichkeiten geprüft. Image-Terror ist für sie eine wissenschaftliche Disziplin. Angriffsziel ausgesondert: Mainstreet Palm Springs, Weihnachten. Zirka 30 000 Menschen pilgern den Boulevard auf und ab. Man kann dort flächendeckend feuern, es muss sein wie das Sprayen mit einer Sprühdose. Homeland Security: We’re seeing lots of data, lots of information coming together that paints a very disturbing picture …

The picture: 900 Grains Kugeln vom Kaliber .600 fetzen durch Magen, Gallenblase und Leber, hinterlassen Löcher, in die man seine Arme stecken kann, wenn man nicht zu empfindlich ist. Ein paar Splitter fegen durch Gehirne, andere fahren durch Lungen und bleiben wie Schrott irgendwo im Arsch stecken.

Was ist bloß los, Hannah? Du interessiert dich nicht mehr für Bilder?

»Was wir sehen«, sagt sie jetzt ganz feierlich, »wird weitgehend bestimmt durch das, was wir hören. Du willst einen Beweis?« Sie stellt den Ton des Fernsehers ab. Sie ersetzt ihn durch einen beliebigen Tonstreifen, den sie zuvor mit dem Tonbandgerät aufgenommen hat: Straßengeräusche, Musik, Gespräche, ein Stöhnen. Der ausgetauschte Tonstreifen erscheint angemessen. Zum Beispiel zeigt sie ein Beobachtungsvideo, das sie am Rodeo-Drive in Beverly Hills gedreht hat: Leute laufen mit Einkaufstaschen am Bijan-Modegeschäft vorbei. Dazu lässt sie Gewehrfeuer abspielen. Sieht aus wie Petrograd 1917.

Warum hier haltmachen, Hannah? Warum irgendwo haltmachen?

Eine Art elektrischer Angstschock läuft ihr jetzt die Beine hinunter. Was ist los, Killer 1? Was ist deiner Meinung nach der richtige Weg?

Nur der Präsident kann mit dem Krieg Schluss machen.

Und was sagt Killer 2?

Der praktische Kodex lautet für mich im Wesentlichen, den anderen, das Schwein übers Ohr zu hauen, auch ohne revolutionäre Ideologie. Ein eingebildeter Krieg?

Hannah wird jetzt fast ein bisschen schlecht, so schön ist das, wenn man die Tonspur auswechselt. Missy Elliott singt. Dazu hören wir die Stimme des Präsidenten: »Each of these groups are autonomous with their own …«

Denkpause. Telefon. Vin Diesels Agent, der vor drei Tagen gefeuert wurde, meldet sich: »Weißt du, wenn du das Leben in Hollywood zu sehr liebst oder die Gewalt zu sehr fürchtest, ist es nur eine Frage der Zeit, bis du zum Ding wirst, kein Mensch mehr bist.«

Alles ist hier extrem instabil. Es gibt keinen Halt, niemand kann sich sicher sein, dass er am nächsten Tag noch als das erkannt wird, was ihn mal ausgezeichnet hat. Auch Vin Diesel nicht. Gerade er nicht. Und da es ja schließlich für jeden eine Grenze gibt, kann der Mensch ja nur bis zu einem gewissen Grad speichellecken. Er kann den anderen eine Zeit lang was vormachen, kann ein guter Schauspieler werden. Wenn aber ein Mensch endgültig die letzte Grenze überschreitet, ändert er gewissermassen seine Ontologie. Ich kann das jetzt schon vor mir sehen: Vin wird jeden Schwanz im Takt lutschen, um oben zu bleiben. Es gibt nichts, was er nicht tun wird..

Tonspur bricht ab. Hannah schüttelt ihr Haar. Sie zündet sich eine Zigarette an. Ich schaue auf den Radiowecker. Einer von uns muss aufstehen. Doch stattdessen rutscht Hannah im Bett nach unten, bis sie irgendwo in der Mitte der Matratze sitzt. Die Bettdecke ist völlig durcheinander.

»Sleeper Cell« erscheint als anonymer Kolumnenroman.