Weihnachten mit Ebay

24 Jahre lang verlief der 24. fast immer gleich. Dieses Jahr scheint alles anders zu sein. von gerd a. gent

Ich erinnere mich daran, dass ich mich nicht erinnere. Knarf Rellöm

Bisher dachte ich immer, meine Mutter sei in ihren Vorstellungen über den Ablauf des Weihnachtsfestes ein sehr konservativer Mensch. So gibt es zum Beispiel seit mittlerweile 24 Jahren, also seit ich während der Schneekatastrophe 1978 das Licht der Welt erblickte (und angeblich mit einem Panzer der deutschen Bundeswehr vom Krankenhaus zur heimatlichen Wiege gebracht wurde) das gleiche Weihnachtsessen: Ente mit Rotkohl, Rosenkohl, brauner Bratensauce, Kartoffeln und seit circa 1996 Kroketten. In Kinderjahren war das Essen nicht mehr als eines von unzähligen ärgerlichen Hindernissen auf dem Weg zur Bescherung, das es so schnell wie möglich zu überwinden galt und dem somit nicht mehr Aufmerksamkeit als unbedingt nötig geschenkt wurde. Ich kann von daher nicht sagen, ob sich seine Qualität in dieser Zeit verändert hat, überhaupt setzt meine Erinnerung an seinen Geschmack erst nach dem Milleniumsjahr 2000 ein. Um dies zu verstehen, muss der genaue Tagesablauf des 24. Dezember, der sich ebenfalls seit 24 Jahren auf identische Weise wiederholt, erzählt werden.

Das Ereignis Heiligabend beginnt eigentlich schon am Spätnachmittag des 23. Dezember, dann, wenn mein Vater von der Arbeit nach Hause gekommen ist und mit einer Axt bewaffnet die Garage betritt, um den dort bereits wartenden Tannenbaum in den Weihnachtsbaumständer ein- und der Höhe des elterlichen Wohnzimmers anzupassen, wobei ihm meine Mutter mit einer Wasserwaage assistiert. Danach folgt Phase 2, in der sich meine Eltern zusammen mit dem Baum, einer verstaubten Lichterkettenpackung und Weihnachtsbaumschmuck vom Dachboden, sowie einer ersten Batterie Marzipanbrote und Nuss-Nougat-Tannenzapfen ins Wohnzimmer zurückziehen, um es einer weitgehenden innenarchitektonischen Neuformulierung zu unterziehen. Eigentlich ist das der Zeitpunkt, ab dem sich dieser Teil des elterlichen Hauses zur No-Go-Area für all diejenigen wandelt, die durch irgendeine Form von Taschengeld- oder Unterhaltsbezügen in ihrer Schuld stehen. Ich glaube, für meine Eltern ist dieser Moment so etwas wie eine Meditation und gleichzeitig der glücklichste und harmonischste des gesamten Jahres. Sie verfolgen ein gemeinsames Ziel, haben eine gemeinsame Aufgabe, die schließlich spätnachts im Aufsetzen der goldenen Christbaumspitze gipfelt. Am nächsten Tag ist das Wohnzimmer tatsächlich abgeschlossen und somit für mich nicht mehr begehbar. Dies ist besonders ärgerlich, seit mein Zuhause woanders ist – auch wenn meine Mutter es nicht wahrhaben will – und ich deswegen über kein eigenes Zimmer mit eigenem Mobiliar verfüge. Stattdessen bin ich im Büro meines Vaters einquartiert, was bedeutet, dass mir in einem der krisenhaftesten Zeiträume des Jahres der Kontakt zum Rest der Welt, zu CNN und MTV versperrt bleibt.

Mit latenter Überreizung streune ich als eine Art virtuelle Gefahr in Ausweichbewegungen durch das Haus, mit dem Versprechen in mir, jederzeit und an jedem Ort den schlimmstmöglichen Unfall herbeiführen zu können, der an diesem Tag ein zu früh vom Zaun gebrochener Familienstreit wäre. Zum Mittagessen gibt es Würstchen mit Brötchen und Senf, derweil der Duft von gebratener Ente und Rotkohl schadenfroh und unausweichlich in der Luft hängt. Dies wiederum lässt meinen Vater zu einem wilden Tier werden, das mir ähnlich, nur aus anderen Motiven, unruhig durch sein Revier zieht. Um circa 16.30 Uhr gehen meine Eltern in den evangelischen Gottesdienst. Außerdem noch zu Ostern, zum Erntedankfest und zu Beerdigungen. Bis zu meinem 15. Lebensjahr musste auch ich noch daran teilnehmen (und war als Mitglied der christlichen Jungschar, sowie später mit meiner Konfirmandengruppe, sogar mehrmals gestalterisch an dessen Ausführung tätig), mit 19 jedoch wagte ich den totalen Ausstieg.

Wie ein Desperado schlich ich mich damals zwei Tage vor Heiligabend ins zuständige Bezirksamt, stieg sogar eine Station vorher aus der U-Bahn (allerdings irrtümlich), um ein weiteres Glied in der Schlange der dort bereits Wartenden zu werden. Zusammen wollten wir ein Zeichen setzen, ganz symbolisch, so kurz vor Weihnachten. Gemeinsam auf einem leeren Flur mit unzähligen verschlossenen Türen. Als ich an der Reihe war, musste ich feststellen, dass die zuständigen Verwaltungsangestellten meiner ausladenden Geste mit professioneller Gleichgültigkeit begegneten, die mich darüber hinaus auch noch 40 Mark kosten sollte.

Ich glaube, das ist die letzte spätpubertäre Protestaktion, an die ich mich erinnern kann. Wenigstens fällt es mir seitdem leichter, mich dem alljährlichen Druck meiner Mutter zu beugen, wenn sie mir am Telefon mit vorbeugend vorwurfsvollem Unterton in ihrer Stimme die rhetorische Frage nach meiner Anwesenheit unterm Weihnachtsbaum stellt.

Wieder zuhause angekommen, wurde und wird um circa 19 Uhr die Ente aus dem Bräter geholt, wobei ich mich an diesen Tagesabschnitt, wie schon erwähnt, bildhafter auch erst wieder seit drei Jahren erinnere. Mit 15 Jahren wandelte ich mich wegen meiner damaligen Freundin zum Vegetarier, was für das Weihnachtsessen bedeutete, dass die Ente durch Reformhaus-Getreide-Bratlinge ersetzt wurde und die Bratensauce ganz wegfiel. Mit 18 radikalisierte ich mich zum Veganer (wiederum wegen einer Liebesbeziehung) und traute mich zu dieser Zeit auch das einzige Mal, das familiäre Weihnachtsfest zu schwänzen. Stattdessen fuhr ich mit meinen Freunden zum dreißig Kilometer entfernten Schleswiger Dom, um dort, gehüllt in Klamotten aus der Altkleidersammlung, als gefakete Obdachlose von den angerührselten Gottesdienstbesuchern Geld für das später geplante Dosenbiergelage zu schnorren. Als wir jedoch ankamen, standen bereits mehrere authentische Obdachlose mit dem gleichen Vorhaben vor der Kirchentür, weshalb wir beschämt wieder abziehen mussten. Dosenbier gab’s trotzdem, schließlich verfügte jeder von uns über ein weitgehend geregeltes Einkommen.

Erst mit 20 Jahren gelang mir endgültig der Ausbruch aus dieser ideologisch zugemauerten Ernährungsweise, nachdem ich mich zuerst mit einem Snickers über das Ende einer bedeutenden Liebesbeziehung und schließlich einige Zeit später mit einer griechischen Fleischplatte über eine weitere Liebesbeziehung (mit der gleichen Person) hinweggetröstet hatte. Also, seit drei Jahren nehme ich wieder am Weihnachtsessen teil.

Bevor es zur Bescherung geht, muss noch gesagt werden, dass alle paar Jahre auch meine Oma anwesend sein sollte, wobei die Entscheidung, welches ihrer Kinder sie auf das Fest einladen durfte, ein hart umkämpftes Terrain darstellte, auf dem nicht imer mit fairen Mitteln gefochten wurde. In der Zeit von meinem 15. bis zum 18. Lebensjahr waren meine Eltern eigentlich chancenlos, da es meine Oma selber war, die von der Vorstellung, mit mir Weihnachten zu verbringen, nicht allzu sehr begeistert schien, was ich ihr schon damals nicht verübeln mochte. Ich entsprach einfach nicht den äußerlichen Anforderungen einer Pastorenwitwe, hatte zeitweise einen Irokesenhaarschnitt oder Dreadlocks, war offenkundig dagegen und von daher zwar körperlich vorhanden, mit meinen Gedanken jedoch ganz woanders.

Hier zu sein, unter dem Weihnachtsbaum zu sitzen, war eindeutig als Niederlage zu bewerten. Ich fühlte mich falsch, verraten, verkauft und unheimlich bescheuert angesichts der Diskrepanz zwischen meinem Haarschnitt und dem Karstadt-Pullover, den zu tragen meine Mutter mich gezwungen hatte. Ich sah mich der Herrschaft meiner Eltern unterworfen und ließ mich nur widerwillig mit gigantischen Sach- und Geldgeschenken bestechen. Ich weiß noch, einmal mit 17 Jahren, da bekam ich von allen Verwandten zusammen so um die tausend Mark geschenkt und verkündete jedem stolz, ich wolle das Geld einem Bauwagenplatz in Flensburg spenden (wo meine damalige Freundin lebte). Das Geld landete am Ende jedoch auf einem Sparbuch, für das mein Vater in meiner Anwesenheit mit dem Leiter der örtlichen Sparkassenfiliale den vergleichsweise hohen Zinssatz von 3,5 Prozent bei einer Anlage von fünf Jahren aushandeln konnte.

Nach dem Essen verschwand mein Vater immer im Wohnzimmer und schloss hinter sich die Tür ab, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, während ich meine im Grundschulkunstunterricht eigenhändig gebastelten Weihnachtsengelmobiles beziehungsweise getöpferten Aschenbecher aus dem Versteck im Kinderzimmer hervorkramte. Dann stellte sich alles im Hausflur auf und wartete gespannt, bis von der anderen Seite der geschlossenen Wohnzimmertür her das helle Läuten eines Glöckchens erschallte. Nun durften wir den Raum betreten. Doch bevor auch nur ein einziges Geschenk ausgepackt werden konnte, musste ich im Alter von fünf bis sieben Jahren ein Gedicht aufsagen, von acht bis elf Jahren auf der Blockflöte drei Weihnachtslieder spielen und noch von zwölf bis 13 selbiges einhändig auf einem kleinen Casio-Keyboard bewältigen. Die Gedichte und Weihnachtslieder hatte ich zumeist schon im Vorfeld als Klassenzweitbester Gedichtauswendigkönner und Blockflötenspieler gelernt und auf den Adventsfeiern des »Reichsbundes« zusammen mit der Klassenbesten vorgetragen.

Danach aber war es so weit und reihum wurden in einem komplizierten Verfahren, allem gierigen Eifer Ausgewogenheit und Besinnlichkeit entgegenzusetzen, die Geschenke verteilt.

Wie gesagt, bis auf kleinere Störungen folgt alles seit nunmehr 24 Jahren einem festen Regelwerk, und wenn überhaupt, dann war ich es, der eine originalgetreue Wiederholung des heiligen Abends dann und wann ins Wanken gebracht hatte. Dieses Jahr versuchte ich das erste mal seit Ewigkeiten wieder einen Wunschzettel zu verfassen. Ich wohne seit mehreren Jahren in wechselnden Wohngemeinschaften und studiere im siebten Semester Germanistik. Aus diesem Grund wünsche ich mir ein großes Küchenmesser, wie sie es beim »Kochduell« immer benutzen, sowie die gesammelten Werke von Franz Kafka in der kritischen Ausgabe.

Vor zwei Tagen rief meine Mutter an und fragte, ob ich mir die Kafka-Bücher nicht bei Ebay ersteigern könnte, wie es meine Cousinen und Cousins bereits letztes Jahr getan hätten. Schließlich sei das Angebot dort wesentlich günstiger als im regulären Buchhandel. Ich glaube, der diesjährige Abend des 24. Dezember wird anders sein als die letzten. Irgendetwas ist ohne mein Dazutun aus den Fugen geraten. Bisher gibt es nur wenige Mitbewerber bei Ebay, und ich halte wacker das Höchstgebot. Noch zwei Tage, 13 Stunden und 26 Minuten.