Vorbildliche Neutralität

Außer den Feiern zur EU-Erweiterung muss die irische Ratspräsidentschaft in den nächsten sechs Monaten nun auch eine Einigung über die zukünftige EU-Verfassung organisieren. von craig attkins

Das kommende halbe Jahr hätte eine einzige große Party für die Iren werden können. Ausgerechnet unter der irischen EU-Ratspräsidentschaft wird die Union um zehn neue Mitgliedsstaaten erweitert. »Willkommenstag« nennen die Iren den 1. Mai, an dem die Länder beitreten werden. Alle derzeitigen und zukünftigen Mitgliedstaaten sind zu einer großen Feier in Dublin eingeladen. Unter den Gästen befinden sich auch Bulgarien und Rumänien, die auf einen EU-Beitritt in drei Jahren hoffen, und sogar die Türkei, der noch kein Beitrittsdatum in Aussicht gestellt wurde. »Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass der Erweiterungsprozess nicht am 1. Mai 2004 endet«, erklärte Außenminister Brian Cowen euphorisch.

Inzwischen scheint man in Irland fast vergessen zu haben, dass das Abkommen von Nizza vor gut einem Jahr beinahe noch durch ein Referendum in dem kleinen Inselstaat gestoppt und der EU-Erweiterung damit ein empfindlicher Dämpfer verpasst worden wäre. Große Probleme für die irische Ratspräsidentschaft stellen inzwischen die gescheiterten Verhandlungen über die EU-Verfassung dar. »Wir sollten nicht erlauben, dass irgendetwas die historische Bedeutung schmälert, welche die Erweiterung für die EU hat«, sagte Ministerpräsidenten Bertie Ahern.

Die irische Bevölkerung ist mittlerweile mehrheitlich mit der Erweiterung einverstanden. 59 Prozent stimmten bei der Eurobarometer-Umfrage der EU-Kommission im Dezember der Aufnahme der zehn neuen Länder zu. Nur ein Fünftel sprach sich ausdrücklich dagegen aus. Beim Volksentscheid im Oktober 2002 hatte die irische Regierung die Bevölkerung noch mit einer aufwändigen Werbekampagne in die Wahllokale locken müssen, um das Gegnerlager aus Grünen, Sinn Féin und Sozialisten zu überrunden. 2001 hatten die EU-Skeptiker eine ähnliche Abstimmung gewonnen.

In der Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft sind die Iren mit 73 Prozent heute sogar fast Spitzenreiter. Die EU hat Irland nach vorn gebracht. Das ehemalige Armenhaus Nordeuropas entwickelte sich zum Vorbild für viele kleinere europäische Staaten. 1973, zu Beginn der irischen Mitgliedschaft lag das Pro-Kopf-Einkommen noch bei 56 Prozent des damaligen EG-Durchschnitts. Heute haben die Iren abgesehen von Luxemburg das höchste Einkommen in der EU. 2002 wuchs die Wirtschaft nach Traumwerten von elf Prozent im Vorjahr immerhin noch um 5,7 Prozent. Die Staatsverschuldung ist in zwölf Jahren von über 95 auf 34 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gefallen.

Der ehemalige nationalistische Paria ist auf Europakurs. Das ist eigentlich eine gute Voraussetzung für Ahern, um die Erweiterung zu feiern. Doch die Partystimmung ist getrübt. Seitdem die Regierungskonferenz in Brüssel Mitte Dezember gescheitert ist, steht für Irland auch die EU-Verfassung auf dem Programm. In der Abschlusserklärung des Verfassungsgipfels wurde die irische Regierung aufgefordert, bis zum EU-Gipfel im März mit den Mitgliedsstaaten zu verhandeln und eine Einschätzung abzugeben, wann es mit der gemeinsamen europäischen Verfassung weitergehen kann.

Der Verfassungsgipfel scheiterte an der im Entwurf des EU-Konvents vorgesehenen doppelten Stimmengewichtung, die den großen EU-Staaten durch die Berücksichtigung der Bevölkerungszahl bei Abstimmungen Vorteile verschaffen würde. Nach dem Vertrag von Nizza haben die kleineren Staaten bisher fast ebenso viel Gewicht wie die großen. Spanien und Polen weigerten sich, diese Position aufzugeben. Ein irischer Kompromissvorschlag soll die zerstrittenen Partner nun wieder zusammenbringen.

Cowen gibt sich optimistisch. Er halte eine schnelle Einigung für möglich. Zwar sei eine Reihe heikler Themen offen, aber dass Irland in den strittigen Punkten neutral sei, könne helfen. In der irischen Bevölkerung ist die Skepsis gegenüber der Verfassung größer als bei anderen Fragen, die die EU betreffen.

Anders als sein Außenminister dämpft Ahern die Erwartungen. Was die EU ein Jahr nach der Einigung auf das Abkommen von Nizza versucht habe, sei »einfach zu viel und zu schnell« gewesen, sagte er. Er wolle zwar versuchen, bis Juni eine Einigung zu erreichen, sie könnte aber auch erst nach dem Ende der irischen Präsidentschaft zustande kommen. Tatsächlich wird Spanien vor seiner Parlamentswahl im Mai kaum auf Verfassungskurs einschwenken. Und die EU-Regierungschefs werden mit der Versöhnung vermutlich warten, bis sie die EU-Parlamentswahl im Juni und kurz darauf die Nominierung des neuen EU-Kommissionspräsidenten über die Bühne gebracht haben.

Wegen des Streits um die Verfassung traten die wirtschaftlichen Ziele der EU in den Hintergrund. Die so genannte Lissabon-Strategie soll die EU bis 2010 zum stärksten Wirtschaftsraum der Welt machen. Bereits im vergangenen Jahr fand das eigentliche Top-Thema wegen des Krieges im Irak kaum Beachtung. Doch auf der Frühjahrskonferenz wird Irland auch über die Wirtschaftsreformen der EU Bilanz ziehen. Noch liege die EU beim Bruttoinlandsprodukt weit hinter den USA, kritisierte Ahern. Die Ankündigung der sechs großen Beitragszahler, ihre EU-Beiträge zu kürzen, wird es ihm nicht leichter machen.

Der Verfassungsstreit beeinträchtigt vor allem das Erweiterungsprojekt. Während Polen von allen Seiten Schelte bezieht, fühlt sich dessen Staatspräsident Aleksander Kwasniewski von den deutsch-französischen »Kerneuropa«-Fantasien angegriffen. Berlin und Paris regten nach dem gescheiterten Verfassungsgipfel an, man solle die politische Integration auf einen kleinen Kreis von EU-Staaten beschränken. Ökonomisch könne man weiter am Großprojekt festhalten.

Von der irischen Ratspräsidentschaft wird es dafür kaum Unterstützung geben. »Fundamental schlecht« findet Ahern die Idee vom »Europa der zwei Geschwindigkeiten«. Es sei nicht nötig, ein neues System zu entwickeln, erklärte er. Ein Staatenkern, der ein anderes Programm verfolge als der Rest, würde den Zusammenhalt und die Solidarität in der EU gefährden. Ein klar abgegrenztes Kerneuropa wird es wohl kaum geben. Vermutlich aber werden variierende Gruppen von Staaten, mehr als schon bisher, in bestimmten Politikfeldern enger zusammenarbeiten als andere.

Engere Kooperation fordern Deutschland und Frankreich besonders in der Verteidigungspolitik. Laut Eurobarometer wollen auch 45 Prozent der EU-Bevölkerung die Verteidigung unter europäische Regie stellen. Der Nato vertrauen nur 15 Prozent. So sehr die Regierungschefs auch betonen, dass eine europäische Armee nicht unabhängig von der Nato agieren würde, der Streit mit den USA um die militärische Autonomie hat gerade erst begonnen.

Ahern setzt »einige Hoffnung« darauf, dass er die Gemüter beim EU-USA-Gipfel im Mai beruhigen kann. Das ginge aber nur mit der Rückendeckung der EU-Partner, betont er. »Alleine schaffen wir es nicht.« Ganz der Neutralität verpflichtet, hat Irland sich bereits vor einem Jahr abgesichert. Die irische Verfassung verbietet es der Regierung, an einer zukünftigen europäischen Verteidigungsarmee teilzunehmen.