Der Gender-Terror

Der afghanische Film »Osama« klagt den Frauenhass der Taliban an. von silke kettelhake

Ich werde verzeihen. Aber ich werde nie vergessen.« Dieses Zitat von Nelson Mandela steht am Beginn von »Osama«, dem ersten afghanischen Spielfilm nach dem Ende des Taliban-Regimes. Der Filmemacher Siddiq Barmak erzählt in dokumentarischen Bildern die Geschichte eines Mädchens, das zusammen mit seiner Mutter und seiner Großmutter in der Hauptstadt Kabul lebt.

Schreie demonstrierender Frauen gellen durch die Straßen, Massenpanik setzt ein, die Taliban preschen mit ihren Geländewagen in die Menge der gesichtslosen Frauen, Schüsse fallen. Schwer atmend verstecken sich das Mädchen mit den großen traurigen Augen und ihre Mutter in einem Verschlag. Draußen spülen Wasserwerfer die blauen Burkas wie totes Gewebe in den Rinnstein. Angst, Hunger und Elend brachte die Frauen zusammen. Ihre Männer sind tot, gefallen im russisch-afghanischen Krieg. Der Terror der Taliban regiert den Alltag. Abertausende Frauen stehen vor einem schier unüberwindlichen Problem: Wie sollen sie ihren Lebensunterhalt verdienen, wenn sie ohne die Begleitung männlicher Verwandter das Haus nicht verlassen dürfen?

Jeden Abend singt die Großmutter für das zwölfjährige Mädchen das Lied vom Regenbogen. Mädchen laufen durch den Regenbogen, werden zu Jungen, und umgekehrt. Langsam schläfert der Singsang der alten Frau die Angst des Mädchens ein, bis der nächste Morgen mit neuen Schrecken wartet. Da steckt der lange Zopf des Mädchens in einem Blumentopf, auf dass eines Tages die Haare wieder wachsen. Als Junge verkleidet, trainiert das Mächen das Überleben in einem Regime, das nicht nur auf die Zerstörung der persönlichen Sicherheit und der Lebensgrundlagen der Frauen zielte, sondern die Unterdrückung eigenständiger Verantwortung und Teilnahme am öffentlichen Leben forderte.

Unter der drohenden Todesgefahr zitternd, geht das Mädchen in den umgeänderten Kleidern des toten Vaters in einem Teehaus arbeiten. Die Besucher sind Männer. Todbringende Männer mit langen Bärten, mit wilden Augen, mit geschulterten Maschinengewehren. Sie taucht ein in eine ihr fremde Welt. Doch ihre zarten Bewegungen fallen auf, ihre Stimme ist zu hoch. Mit ihren kleinen Mädchenschuhen trippelt sie durch die Teeküche, und die Angst vor der Entdeckung scheint ihr ganzes Denken zu bestimmen. Lohn der Angst: ein Brot, etwas Milch, eine Frucht, die sie an sich drückt, als sie den langen Weg durch die staubigen Straßen, vorbei an zerschossenen Gebäuden, nach Hause hetzt. Nirgends gibt es Schutz, niemand kann ihr helfen. Die Welt ist voller Feinde, und zu Hause warten hilflos und hungrig Mutter und Großmutter.

Siddiq Barmak arbeitete durchweg mit Laiendarstellern, die realitätsnäher nicht hätten agieren können. Die Hauptdarstellerin Marina Golbahari bat ihn auf der Straße um ein Almosen. Ihre Augen beeindruckten den Regisseur. »In ihnen lag Tragik, Melancholie und eine große Traurigkeit. Als ich sie fragte, ob sie in einem Film mitspielen wolle, wusste sie erst nicht, was ich meinte. Sie hatte nur einmal beim Betteln einen Fernseher in einem Café gesehen.« Als Gage erhielt sie ein Haus, in dem sie und dreizehn ihrer Familienmitglieder heute leben.

In »Osama« spitzt sich die Situation für das Mädchen immer mehr zu. Alle Jungen müssen in die Koranschule. Hier herrschen Drill und Unterdrückung und das Recht des Stärkeren. Jeder Schritt ist eine Bewährungsprobe. Espandi, ein frecher Straßenjunge, wird zu ihrem Freund und Beschützer. Um sie vor weiteren Übergriffen zu schützen, gibt er ihr den Namen Osama und zeigt ihr, wie sie sich als Junge verhalten muss. Doch Osama fällt auf und ihre wahre Identität wird entdeckt, die Sharia droht. »Ich will zu meiner Mutter«, jammert das Kind, doch niemanden kümmert’s in dem mit verzweifelten Frauen gefüllten Gefängnis.

Die gespenstischen Szenerien bannen den Zuschauer über die gesamten 82 Minuten des Films. Und die Hoffnung stirbt zuletzt. Das Gericht beschließt die Zwangsverheiratung mit einem dreckigen Greis. Wie ein Stück Vieh bringt er sie in sein Haus.

Der Regisseur und Drehbuchautor Siddiq Barmak, der 1962 geboren wurde, erhielt in Cannes Standing Ovations und eine besondere Erwähnung für seinen mutigen Film. »Ich habe mit einigen Frauen gesprochen, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben und von den Mullahs zur Ehe gezwungen wurden. Nur wenige Opfer befreiten sich nach dem Sturz des Terror-Regimes aus der Zwangsehe, die meisten schämen sich, fühlen sich stigmatisiert und trauen sich nicht, diese Männer zu verlassen. Es gibt kaum eine Chance für sie.«

Als die Nordallianz Kabul eingenommen hatte, wurde die Nachricht von einer weiblichen Stimme im Radio verbreitet, der ersten nach fünf Jahren der Taliban-Diktatur. Häusliche Gewalt, erzwungene Ehen zum Teil minderjähriger Mädchen, Diskriminierung vor Gericht und andere Verletzungen der Rechte von Frauen sind nach einem Bericht von amnesty international auch zwei Jahre nach dem Ende der Taliban-Herrschaft an der Tagesordnung. »Osama«, beruhend auf einer realen Begebenheit, steht stellvertretend für das Schicksal unzähliger Frauen.

Schwierig genug war der Dreh in Kabul. Siddiq Barmak: »Es fehlt an jeglicher filmischer Infrastruktur in meinem Land. Die Taliban haben alles zerschlagen.« Nach seiner Rückkehr aus dem pakistanischen Exil übernahm er im letzten Jahr neuerlich die Leitung der staatlichen Produktionsgesellschaft Afghan Film. Mitarbeiter von Afghan Film hatten ihr Leben riskiert, als sie in dem bunkerähnlichen Gebäude der Institution falsche Wände einzogen, mit Koransuren beschrifteten und dort 8 000 Filmrollen vor dem Zugriff der Taliban bewahrten.

Immerhin: »Osama«, die filmische Anklage gegen die Unterdrückung durch die Taliban, konnte nun mit ausländischer Unterstützung in Kabul gedreht und gezeigt werden. Die Reaktionen des Publikums dort waren euphorisch, wie der Regisseur versicherte.

Sein nächster Film, das hat Siddiq Barmak versprochen, wird eine Komödie werden, denn die Bevölkerung habe nach all dem Leid auch mal das Recht zu lachen. Hoffentlich können die Frauen in Afghanistan endlich mitlachen.

Osama (Afghanistan, Japan, Irland 2003). Regie: Siddiq Barmak. Start: 15. Januar