»Die Agenda ist ein Reformspektakel«

Friedhelm Hengsbach

In diesem Jahr werden die ersten Reformen der rot-grünen Bundesregierung spürbar. Schon die Einführung der Praxisgebühr bei Arztbesuchen führte zu großem Unmut in der Bevölkerung.

Friedhelm Hengsbach gehört zu den entschiedenen Kritikern der Agenda 2010. Er ist Professor für Christliche Sozialwissenschaft und Wirtschafts- und Gesellschaftslehre an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main. Im Alter von 20 Jahren trat er dem Jesuitenorden bei. Mit ihm sprach Stefan Wirner.

Was fällt Ihnen zum Begriff Eigenverantwortung ein?

Diejenigen, die über entsprechende finanzielle Möglichkeiten verfügen, denen sollte man ruhig auch das Wagnis der Eigenverantwortung zumuten. Diejenigen, die an der Wohlstandsschwelle und darunter leben, sind doch eher auf die Solidarität der Starken und Reichen angewiesen. Es ist immer die Frage, wem ich die Eigenverantwortung zumute. Momentan reden diejenigen, die stark und mächtig sind, von der Eigenverantwortung derjenigen, die Hilfe brauchen.

Sie sind ein Kriktiker der Agenda 2010. Was sind Ihre Hauptkritikpunkte?

Dass gesellschaftliche Risiken individualisiert werden. Man versucht im persönlichen Verhalten, also etwa in der mangelnden Arbeitsfähigkeit oder in riskanten Lebensstilen, die Risiken zu verankern. Das ist bei der Rente so, bei der Arbeitslosenversicherung, auch bei der Krankenversicherung. Leistungen, die bisher solidarisch erbracht wurden, werden jetzt der privaten Vorsorge überlassen. Systematisch wird die Solidarität demontiert und werden marktförmige Verhältnisse zwischen dem Staat und dem Einzelnen, der Solidargemeinschaft und dem Kranken und dem Benachteiligten konstruiert.

Wenn das so ist, warum gab es dann so wenig Protest dagegen? Bis auf eine Demonstration im November war es in Deutschland relativ ruhig.

Es kann daran liegen, dass die Ursachen der gegenwärtigen Krise auf Einzelne abgeladen werden. Dieser Individualisierungsprozess trägt natürlich seine Früchte. Arbeitslose nehmen nicht die strukturellen Defizite der Wirtschafts- oder Sozialpolitik wahr, sondern werden immer wieder darauf hingewiesen, dass sie persönlich an ihrer Lage schuld seien.

Zum anderen ist ja vorher auch sytematisch jede Gruppierung, die kollektiven Widerstand organisieren könnte, schlecht geredet worden. Es gab Kampagnen gegen die Gewerkschaften. Und wenn solche massiven Kampagnen laufen, dann ist ein solidarischer Zusammenschluss äußerst schwer zu organisieren.

Es scheint, dass mit dem Inkrafttreten der Agenda in den Medien die Kritik an den Reformen zunimmt.

Die Agenda ist keine Reform. Sie ist ein inszeniertes Reformspektakel. Immer ging es dabei um Jahrhundertwerke, ob das die Steuerreform, die Hartz-Gesetze eins bis vier waren, die so genannte Gesundheitsreform, da sollten immer großartige Projekte angeleiert werden. Und am Ende bleibt es bei miesen Reparaturarbeiten auf Verschiebebahnhöfen oder in irgendwelchen Reparaturwerkstätten in Hinterhöfen.

Die Kritik, die jetzt hörbar wird, zeigt, dass das ganze Konzept der Agenda nicht trägt. Denn sonst könnte es ja nicht sein, dass dauernd nachgebessert wird.

Sie haben auch Bundeskanzler Schröder persönlich kritisiert. Sie meinten, er trete kräftig nach unten. Warum tut er das?

Ich will jetzt keine persönliche Schuldzuweisung machen. Ich habe den Eindruck, dass die Regierung unter einem massiven Druck steht, wenn man sich ansieht, was sich da etwa in Initiativen wie dem Bürgerkonvent ausdrückt oder in der Initiative Neue Marktwirtschaft, im Sachverständigenrat oder in wirtschaftswissenschaftlichen Faktultäten. Die Regierung wird gejagt und soll ihre wirtschaftspolitische Kompetenz erweisen. Und sie tut es, ohne nach Alternativen zu suchen. Sie übernimmt die Dogmen und den Aberglauben, die seit 25 Jahren propagiert werden: Vertraue auf die Selbstheilungskräfte des Marktes! Der schlanke Staat ist der beste aller möglichen Staaten! Wenn die Zentralbank für die Inflationsbekämpfung sorgt, dann kommen Wachstum und Beschäftigung ganz automatisch! Das sind die Glaubenssätze eines kollektiven Wahns. Dem jagt die SPD nun nach. Und das als Ausdruck von sozialer Gerechtigkeit zu definieren, ist ja wirklich sozialdemokratischer Zynismus.

Sie sagten in einem Interview, diese Stimmung komme aus der US-amerikanischen Finanzwelt. Was meinen Sie damit?

Ich sehe eine Umkehr des Denkens gegenüber dem, was in der Nachkriegszeit die herrschende Meinung in der Ökonomie war. Damals ging man davon aus, dass die Privatwirtschaft in sich instabil ist. Eine kapitalistische Marktwirtschaft kann volle Regale liefern, aber nicht Vollbeschäftigung sichern. Der Staat sollte diese Instabilität auf verschiedenen Ebenen ausgleichen.

Das hat man nach 1973 und in den achtziger Jahren, als die Arbeitslosigkeit so drastisch anstieg, aufgegeben und gesagt, das sind nicht mehr die Rezepte, die die gegenwärtige Situation erstens erklären und zweitens heilen können. Also muss man umschwenken auf eine andere Wirtschaftspolitik, und das war eine Politik, die in erster Linie auf Marktkräfte setzt und unter den Begriffen Reaganomics oder Thatcherism international bekannt wurde.

Nur haben die US-Amerikaner bespielsweise Steuern gesenkt und die private Initiative entfesselt. Gleichzeitig haben sie riesige Haushaltsdefizite eingefahren und Geld in die Weltraumforschung oder in den Krieg hineingepumpt. Das wurde in Europa sinnvollerweise nicht gemacht. Nur kann nicht auf der einen Seite eine Reform darin bestehen, den Staatshaushalt immer mehr schrumpfen zu lassen, also die öffentliche Hand zu verarmen. Denn dann können die öffentlichen Güter nicht mehr bereit gestellt werden, wie die Infrastruktur, Bildungs- und Gesundheitsgüter. Und auf der anderen Seite bereichert man dann die privaten Haushalte. Die Vermögenszuwächse im privaten Bereich schrumpfen ja nicht. Diese Politik ist fragwürdig.

Der Staat muss investieren im Bereich der Infrastruktur, der Bildung, der Gesundheit, der ökologischen Umsteuerung, die dann private Investitionen nach sich ziehen, und das auch auf europäischer Ebene. Das scheinen mir die Zukunftsperspektiven zu sein.

Ist nicht der Sozialabbau, wie er hierzulande betrieben wird, einfach ein deutsches Projekt? Schließlich geben doch alle alles für den Standort. Braucht man den Hinweis auf die USA?

Die USA sind die Meinungsführer und Schrittmacher. Es gibt von den USA aus auch Gegenbewegungen gegen diese Politik. Führende US-amerikanische Ökonomen und bedeutende Politiker sagen, die Zeit sei gekommen, dass die Märkte, vor allem auch die Finanzmärkte, gerade die entfesselten, die zu der Krise beigetragen haben, gesteuert werden müssen durch politische Vorentscheidungen, durch eine entsprechende Aufsicht und Kontrolle der internationalen Organisationen und Vereinbarungen.

Sie haben 1998 wegen Ihres sozialen Engagements den Gustav-Heinemann-Preis der SPD bekommen. Haben Sie den Preis schon zurückgegeben?

Nein, das habe ich nicht. Mit Gustav Heinemann verbinde ich das Bestehen auf bürgerlichen Freiheitsrechten, auf kollektivem Widerstand gegen die Bürokratie und einen Staat, der die Bürgerrechte immer mehr einschränkt. Heinemann stand auch für soziale Grundrechte, die die Bausteine der Demokratie sind. Von daher verbindet sich mit diesem Namen der Traum, dass der Kapitalismus und die Demokratie vereinbar gemacht werden können.