Hört uns auf mit Kindergärten!

Wenn die moderne Bildungsökonomie die »soziale Gerechtigkeit« entdeckt, sind Studiengebühren schon beinah durchgesetzt. von torsten bultmann

Der Studierendenrat der Universität Erfurt hat kürzlich einen »bildungspolitischen Skandal« ausfindig gemacht. Den nämlich, »dass zwar für Kindergartenplätze Gebühren erhoben werden, der Besuch einer Universität aber kostenlos ist«.

Während bislang in den studentischen Streikaktivitäten die Ablehnung von Studiengebühren einhellig ist, freundet man sich in Erfurt schon mit »sozialverträglichen« Studiengebühren an.

Im Vergleich der Universitäten mit den Kindergärten verbindet sich eine zutreffende Beobachtung mit einer enormen Abstraktionsleistung. Standen die Forderungen nach Studiengebühren bisher überwiegend für soziale Auslese, Privatisierung und Konkurrenz, dampft es jetzt vor lauter »Ein Herz für Kinder!« Sollte das Thema Studiengebühren künftig auf diese Weise von »links« besetzt werden, könnte sich ein Defizit der aktuellen Debatte an den Hochschulen rächen.

In der politischen Ablehnung von Gebühren überlagern sich drei Diskussionen. Das verbreitetste Motiv dürfte darin bestehen, nichts zahlen zu können, was zwar legitim, wenn auch politisch auf Dauer nicht ausreichend ist. Zum zweiten gelten Studiengebühren als Synonym für die Privatisierung öffentlicher Aufgaben, woraus politischer Raum für soziale Bündnisse entsteht. Auch das ist zutreffend, bleibt aber unvollständig. Indem Studiengebühren auf diese Art auf eine Stufe mit Fahrpreiserhöhungen oder Verteuerungen von Freibädern gestellt werden, kommt ihre spezifische bildungspolitische und bildungsökonomische Funktion nicht zum Ausdruck. Zum dritten werden Gebühren als Mittel analysiert, um ein marktgesteuertes Hochschulsystem und konkurrenzförmiges individuelles Bildungsverhalten durchzusetzen.

Dieser letzte Ansatz führt dann weiter, wenn er nicht auf der Ebene einer isolierten »Hochschulpolitik« stehen bleibt, sondern nach der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Studiengebühren in den aktuellen bildungspolitischen Strategien fragt. Darin zeichnet sich ein grundlegender Funktionswandel von Bildung im Rahmen eines neuen Sozialregimes ab.

Neoliberale Standortpolitik ist vor allem Wissensökonomie, insofern Produktion und Verteilung von Wissen enger als jemals zuvor in die ökonomische Wertschöpfung integriert werden. Bildungspolitik verbindet sich in diesem Rahmen zugleich mit Konzepten des »Selbst-Unternehmertums« wie zum Beispiel der Ich-AG und des »aktivierenden Staates«, und zwar in dem Maße, wie traditionelle Sozialpolitik auf ein Verständnis von Investition in die angeblich eigenverantwortliche Konkurrenzfähigkeit von Individuen reduziert wird.

Das Bildungssystem ist in diesem Kontext der zentrale und ursprüngliche gesellschaftliche Ort, an dem Konkurrenzfähigkeit durch systematisch organisierte Wissensvermittlung hergestellt wird. Dabei zeichnet sich zunehmend eine Art Arbeitsteilung ab, in welcher der staatliche Bildungssektor zunächst eine Grunddisposition an Lernbefähigung vermitteln soll, während verwertungsrelevantes »Arbeitswissen« künftig stärker durch Marktmechanismen reguliert wird.

Dies hat Konsequenzen für das ganze Bildungswesen. Damit beginnt der Wettbewerb tatsächlich bereits im Kindergarten. In den Debatten, wie sie in den so genannten Think Tanks, Sachverständigenräten und Medien bereits geführt werden, wird die vorschulische Erziehung unter dem Aspekt der Humankapitalbildung bewertet.

Schon in der Grundschule sollen die entscheidenden sozialen Schlüsselkompetenzen erworben werden, die dann zum eigenverantwortlichen lebenslangen Lernen befähigen. Die weiterführenden Bildungswege nach der allgemeinen Schulpflicht (also ab der 10. Klasse) werden hingegen unter dem Aspekt der zunehmend individuellen Interessenprofilierung und beruflichen Spezialisierung gesehen. Berufliches Spezialwissen aber muss ständig »eigenverantwortlich« neu erworben werden, da es den permanenten Entwertungsprozessen der Märkte ausgesetzt ist. Damit lassen sich die Verkürzung von Bildungszeiten im staatlichen Sektor nach der 10. Klasse, der Abbau öffentlicher Finanzierung und eine marktförmigere Erschließung von Oberstufe, beruflicher Bildung und Studium durch unterschiedliche Formen privater Kostenbeteiligung legitimieren.

Studiengebühren, die Aufhebung der Lehrmittelfreiheit in der gymnasialen Oberstufe, sowie die mittlerweile ernsthaft aus dem Arbeitgeberlager vorgebrachte Forderung, für die berufliche Bildung wieder das »Lehrgeld« als Äquivalent zu Studiengebühren einzuführen, sind daher unterschiedliche Aspekte ein und derselben Strategie.

Diese fasst ein vom Kieler Institut für Weltwirtschaft im Auftrag der Deutschen Bank (2003) erstelltes Gutachten kurz und erfrischend deutlich zusammen: »Kürzere Lebenszyklen für neues technisches Wissen erhöhen das Risiko, dass Bildung obsolet wird. Um das Produktivitätspotenzial einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung am besten auszuschöpfen, müsste die Verweildauer der Jüngeren in der ersten Bildungsphase verkürzt und das Konzept des lebenslangen berufsbegleitenden Lernens umgesetzt werden. Eine Straffung der Grundbildung könnte erreicht werden durch eine Aufwertung der Phase der Vorschulerziehung, eine möglichst frühe (freiwillige) Einschulung und die Nutzung weiterer Kürzungspotenziale.«

Eine sukzessiv erweiterte private Zuzahlung in den »oberen« Etagen des staatlichen Bildungssystems eröffnet gleichzeitig, so wird zumindest suggeriert, Spielräume, hier bisher gebundene Steuergelder in den so genannten Vorschulbereich nach »unten« umzuverteilen.

Der Skandal, auf den etwa der eingangs zitierte Studierendenrat aus Erfurt rekurriert, besteht ja tatsächlich: Die private Beteiligung an den Gesamtkosten des Vorschulbereiches ist in Deutschland mit 37,8 Prozent (2002) doppelt so hoch wie im Durchschnitt der OECD (17,8 Prozent). Damit wird systematisch soziale Ausgrenzung produziert, was sich auch auf die gesamte spätere Bildungsbiografie auswirkt. Und das wiederum ist ein Effekt, der nachgewiesenermaßen für Familien mit Migrationshintergrund besonders stark gilt.

Allerdings gibt es keinen analytisch bestimmbaren Zusammenhang zwischen der Tatsache einer Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums und der staatlichen Unterfinanzierung von Kindergärten. In diesem Umstand spiegelt sich vor allem die desaströse Finanzlage der Kommunen wieder, die hauptsächlich den öffentlichen Finanzierungsanteil des Elementarbildungsbereiches erbringen müssen.

Die unvermittelte Gegenüberstellung von Hochschulen und Kindergärten hat allerdings einen enormen ideologischen Gebrauchswert: Die Frage nach der Finanzierung der Bildung wird von der Frage der gesellschaftlichen Verteilung des Sozialproduktes entkoppelt und auf eine unmittelbare Verteilungskonkurrenz zwischen verschiedenen Gruppen von Bildungsteilnehmern projiziert. Der medial konstruierte »Bummelstudent« ist in dieser Sichtweise ein besonders verabscheuungswürdiges Geschöpf. Zugleich wird damit ein politisch bequemes Motiv gefestigt, das darauf abzielt, die Bildungsreformen nur als »kostenneutrale« Umverteilung bisheriger Bildungsausgaben zu verkaufen.

Die Forderung nach »Studiengebühren für Kindergärten« war bis vor wenigen Jahren völlig unbekannt. Erst in den neunziger Jahren wurde sie in den politikberatenden Agenturen und Think Tanks ausgetüftelt.

Mittlerweile ist dieses Argument auf die Titelseiten der überregionalen Presse vorgedrungen. Offenbar soll es für ansonsten ratlose Bildungspolitiker den Durchbruch in der öffentlichen Akzeptanz von Studiengebühren bewirken.

Bis weit in die neunziger Jahre war die »soziale Frage« die entscheidende Schwachstelle der Befürworter von Studiengebühren. Sie wussten auf den zentralen Einwand, dass Studiengebühren die negativen Effekte eines ohnehin sozial selektiven Bildungssystems verstärken würden, keine Erwiderung.

Die neue Argumentation ermöglicht es nun, die Befürwortung von Gebühren plakativ mit gerechtigkeitspolitischen Behauptungen und – man staune – dem Anspruch einer Umverteilung »von oben nach unten« zu verbinden. In Erfurt freilich ist diese Erkenntnis nur vorübergehend eingetroffen. Am vergangenen Freitag trat der Studierendenrat nach Protesten zurück.

Torsten Bultmann ist Geschäftsführer des Bundes demokratischer WissenschaftlerInnen und Mitglied im Koordinierungsausschuss des ABS.