In Europa angekommen

Bekennerschreiben und Ermittlungergebnisse verweisen auf al-Qaida, die eine Offensive in Europa angekündigt hat. von alfred hackensberger

Amerikaner und ihre Alliierten – Zivilisten oder Militärs – zu töten, ist eine individuelle Pflicht für jeden Muslim, der es tun kann, in jedem Land, in dem es möglich ist«, verkündete Ussama bin Laden bereits 1998 zum Auftakt des globalen Jihad. Seit dem Beginn des Irakkrieges häuften sich die Drohungen aus den Reihen des al-Qaida-Netzwerks gegen die Verbündeten der USA, und die entsprechenden Anschläge konnten nicht lange ausbleiben.

Überraschend erscheint daher die Zaghaftigkeit, mit der die Bomben in Madrid mit möglichen islamistischen Urhebern in Verbindung gebracht wurden. Im indonesischen Bali, in der Türkei oder im Irak zögerte niemand, die Attentate der al-Qaida zuzuschreiben, auch wenn es nicht wie im Falle von Madrid sofort ein Bekennerschreiben gab.

»Wir haben eine Säule der Kreuzfahrer-Allianz, Spanien, angegriffen«, heißt es im Schreiben der Brigade Abu Hafs al-Masri, das noch am Tag des Attentats bei der in London ansässigen Zeitung Al-Quds al-Arabi einging. Die Authentizität des Briefes ist umstritten, in den folgenden Tagen verdichteten sich jedoch die Hinweise auf islamistische Täter.

In Spanien wurde der Bekennerbrief nur am Rande im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erwähnt, dann ging es weiter mit der Berichterstattung über die offizielle Version der spanischen Regierung, dass die baskische Eta hinter dem Anschlag stecke. Trotz aller neuen Indizien, die gegen die Beteiligung der Eta sprachen, beharrte der Innenminister Angel Acebes darauf, dass die baskische Organisation die Hauptverdächtige sei und auch bleibe. Die Eta verneinte ganz offiziell jede Beteiligung am »Massaker von Madrid«, und Herri Batasuna, die erst kürzlich verbotene, der Eta nahe stehende baskische Partei, tat das gleiche und veranstaltete am Samstag eine Gedenkfeier für die Toten.

Die Eta ist für die konservative PP der Beweis für die »Bedrohung der Demokratie«, der man selbstverständlich mit »unnachgiebiger Härte« begegnen muss. »Sie sollten jede Möglichkeit nutzen«, so schrieb nach Angaben der Tageszeitung El Pais die Außenministerin Ana Placido an die Botschafter Spaniens im Ausland, »um die Verantwortung der Eta für diese brutalen Anschläge zu bestätigen, um dabei zu helfen, jede Art von Zweifel zu zerstreuen, den interessierte Parteien möglicherweise verbreiten wollen.«

Fragen nach Ursache und Wirkung oder gar nach Schuld und Verantwortung sind in Spanien, dessen politisches Establishment sich nach dem Tod des Diktators Franco im Jahr 1975 nicht mit den Verbrechen der Vergangenheit auseinanderstezen wollte, wenig populär. Die PP betreibt die kollektive Verdrängung am gründlichsten.

Schließlich aber konnten die Hinweise auf islamistische Täter nicht mehr ignoriert werden. Bereits am letzten Freitag meldete das norwegische Fernsehen, dass eine »Verteidigungsforschungsgruppe« Dokumente gefunden habe, die Spanien als privilegiertes Ziel der al-Qaida nennen. »Wir haben altes Material durchsucht«, erzählte Brynjar Liar, die Leiterin der Forschungsgruppe, »und plötzlich festgestellt, dass es sich nicht auf den Irak bezog, sondern auf die Innenpolitik Spaniens, insbesondere auf die Wahlen.«

In diesem Dokument, letztes Jahr gefunden auf einer arabischen Webseite zum Thema al-Qaida-Strategien, wird Spanien als »schwächstes Glied in der US-Allianz bezeichnet«. Man müsse »die Wahlen maximal ausnützen«. Die Regierung werde »allerhöchstens mit drei Attacken zurechtkommen«. Wenn sich Spanien aus dem Irak zurückziehe, würden alle anderen Verbündeten der USA wie »Dominosteine« fallen.

Wenn dies die al-Qaida-Strategie korrekt wiedergibt, können die Islamisten einen ersten Sieg verbuchen. Der Wahlerfolg der sozialdemoratischen Psoe sei die erste Konsequenz des »katastrophalen« Irakkrieges, erklärte Parteichef José Luis Rodríguez Zapatero. »Die zweite wird sein, dass die spanischen Truppen heimkehren.«

Die Psoe war vorsichtig genug, sich nicht auf die Eta-Spur festzulegen und profitierte sicher auch davon, dass die selbst ernannten Terror-Experten der PP sich öffentlich blamiert haben. Die Verhaftung von drei Marokkanern und der Fund eines Videos, in dem ein Mann mit marokkanischem Akzent, sich im Namen der al-Qaida zu den Anschlägen bekannte, deuteten am Wochenende erneut auf die islamistische Spur. Sie weist offensichtlich nach Marokko. Verwunderlich ist das nicht. Im Mai 2003 gab es in Casablanca mehrere Anschläge auf spanische und jüdische Einrichtungen. In Marokko existierten zu dieser Zeit mehr als 20 islamistische Organisationen.

Wie viele davon nach den Säuberungen der marokkanischen Sicherheitsbehörden im Laufe des letzten Jahres noch übrig sind, lässt sich kaum sagen. Sicher aber ist, dass die Slums von Casablanca, in denen Hunderttausende von Menschen im sozialen Abseits dahinvegetieren, zu allem entschlossene zornige junge Männer produziert haben.

Die Repression des marokkanischen Staates, der verdächtige Koranschulen schließen ließ, Massenverhaftungen vornahm und zahlreiche islamische Gruppen verbot, dürfte ein Übriges zur weiteren Radikalisierung beigetragen haben. Die Ausführung des Anschlages in Madrid durch »lokale Kräfte« aus Nordmarokko, wo nicht Französisch, sondern Spanisch die Zweitsprache ist, entspricht ganz dem dezentralen Konzept der al-Qaida.

Die Organisation fungiert als eine Art Dachverband, der je nach den Umständen finanziell oder logistisch hilft, aber personell nicht verwickelt ist. Zu den Partnern vor Ort gibt es höchstens lockere Kontakte, meist über mehrere Mittelsmänner. Ideologische Übereinstimmungen beschränken sich oft darauf, den Westen, vor allem die USA und Israel, sowie alle am Irakkrieg beteiligten Nationen zu bekämpfen. Al-Qaida gibt auf diese Weise selbst kleinen Splittergruppen eine Plattform, auf der sie sich und ihr Anliegen darstellen können.

Die Anschläge in Madrid waren wahrscheinlich erst der Auftakt des Krieges in Europa. Einen Schutz für Zivilisten, wie ihn der Koran ursprünglich vorschreibt, gibt es nicht mehr. Die gesamte Bevölkerung wird für die Politik der »Kriegsregierungen« verantwortlich gemacht.

»Aznar, wo ist Amerika?«, fragen die Briefautoren der al-Masri-Brigade. »Wer wird dich vor uns beschützen?« Tatsächlich hat der »Krieg gegen den Terror« die Aktionen international organisierter, aber dezentralisierter Gruppen nicht verhindern können. Wenn die westlichen Staaten sich weiterhin auf eine militaristische »Politik der Stärke« stützen, ist zu befürchten, dass noch mehr Menschen getötet werden, die morgens nur zur Arbeit fahren wollen.