Die Fontäne

Genf, 1938/39. Von Annett Gröschner und Peter Jung

Die Erinnerung, von der ich ganz sicher bin, dass sie meine ist, fängt in Genf an. Ich war fast sechs und kam in eine französische Vorschule. Das war, nachdem wir aus Österreich ausgewiesen worden waren. Ich weiß nicht, ob ausgewiesen das richtige Wort ist, vielleicht war es eine Flucht. Als Kind wechselt man den Ort, aber man hat noch keine Fragen, die man formulieren kann, warum das jetzt so ist.

Die Deutschen waren in Österreich einmarschiert, Anschluss nannte sich das, und mein Vater musste aus dem Land raus, um nicht verhaftet zu werden. Er hatte keinen Pass mehr, er war staatenlos. Es war schwer, in Europa ein Staatenloser zu sein, denn überall wurde nach Pässen gefragt. Aber irgendein Papier muss mein Vater gehabt haben, denn die Schweizer waren besonders erpicht auf Papiere. Ins Land sind wir unbehelligt gekommen, wahrscheinlich durch Beziehungen. So sind wir in Genf gelandet. Ich war schockiert, weil ich die Sprache nicht verstand. Die Genfer legen sehr viel Wert darauf, dass nicht deutsch gesprochen wird.

Meine erste Erinnerung ist, dass ich rauchte. Da bin ich mir auch sicher, dass es kein Foto gibt. Ich war auf der Suche nach Freunden. Wenn man neu ist, und ich war in meiner Kindheit oft der Neue, will man Anschluss haben. Da waren diese Kinder, mit denen ich gerne befreundet gewesen wäre, und die sagten, wenn du zu uns gehören willst, dann musst du mit uns rauchen. Oder hast du Angst? Hatte ich natürlich nicht. Es blieb nicht bei einer Zigarette, und dann wurde mir sehr übel. Mutter und Vater waren beide Raucher. Die hatten natürlich keine Ahnung, dass ich mit nicht mal sechs Jahren im Gebüsch saß und qualmte. Auch gekotzt wurde ins Gebüsch. Ich habe später nie wieder eine Zigarette geraucht.

Meinen Eltern habe ich in Genf jedenfalls nicht erzählt, dass ich geraucht habe. Sie müssen auch andere Sorgen gehabt haben.

An die Schule erinnere ich mich nicht, und da ich eine Vorliebe dafür habe, mich immer nur an die guten Sachen zu erinnern, muss ich mich dort nicht besonders wohlgefühlt haben. Ich habe im Unterricht so gut wie nichts verstanden, es war alles auf Französisch. Wahrscheinlich saß ich nur meine Zeit ab.

Wir wohnten in der Nähe des Genfer Sees. Dort gibt es heute noch eine Fontäne mitten auf der Wasserfläche, zu der man über einen Laufsteg gelangt. Jeden Tag um 12 Uhr schoss diese Fontäne in die Höhe.

Mit meinen neuen Freunden ging ich kurz vor zwölf über den Laufsteg. Man hörte das Gluckern des Wassers in den Rohren, lange bevor die Fontäne anging, und wenn es lauter wurde, liefen wir wie verrückt ans Ufer zurück, denn wir wollten natürlich nicht nass werden.

Ich glaube, es ging uns nicht schlecht in Genf. Im Winter fuhren wir zum Skifahren ins Gebirge. Für mich gab es Skier, die waren nur knapp einen halben Meter lang. Einmal waren wir in Grindelwald. Meine Mutter und ich wurden da fotografiert mit einem Riesenmann im Polarbärenfell. Das Foto habe ich 40 Jahre später in der Zeitschrift Stern entdeckt, die ich zufällig gekauft hatte. Ich habe den Stern auf meinen Reisen oft gelesen, weil mich Deutschland immer noch interessierte und auch, um mein Deutsch nicht ganz zu verlernen. Der war ja leicht zu verstehen, mit vielen Bildern. Und da war plötzlich ein Artikel von Jürgen Serke, der hieß: »Die Verbrannten Dichter«. Das war ein mehrteiliger Bericht über Schriftsteller, deren Bücher von den Nazis verbrannt worden waren. Und ausgerechnet in dieser Ausgabe war der Artikel über Franz Jung. Das war einer dieser komischen Zufälle, die es im Leben gibt.

Es gab einige Fotos von meinem Vater, und eben dieses Bild mit meiner Mutter, diesem Bärenmann und mir in Grindelwald, unter dem stand, dass das seine dritte Frau und sein Sohn, der heute in Amerika lebt, seien.

Ich weiß nicht, woher die Stern-Leute das Foto bekamen, offensichtlich mussten sie gute Rechercheure gehabt haben. Vielleicht haben sie es von Cläre Jung bekommen, die alles gesammelt hat, was meinen Vater betraf. Ich denke, wir haben es ihr als Postkarte geschickt. Wie das eben damals so war, man fuhr nichts ahnend mit den Skiern durch den Wald, dann kreuzte ein Polarbär die Loipe, und hinter dem Baum stand ein Fotograf, der ein Geschäft machen wollte. Und schon lächelte man und bekam ein paar Tage später ein Foto in Postkartengröße.

Im Grindelwald war mein Vater nicht dabei, aber er war ein großer Wanderer, nicht nur im übertragenen Sinne.

Überall, wo wir hinkamen, haben wir Ausflüge gemacht. Einer war in das Gletschergebiet auf dem Mont Blanc, der ja nahe bei Genf ist. Mich hat damals fasziniert, dass neben den schmalen Wanderwegen das Wasser entlanglief, aber ich fürchtete, es könnte über das Ufer steigen und uns wegschwemmen. Auf der anderen Seite war eine ziemlich tiefe Schlucht. Eigentlich ließe sich unser ganzes damaliges Leben in diesem Bild unterbringen – ein schmaler Weg, gerade breit genug für eine Person, auf der anderen Seite das Wasser, von dem man nicht weiß, ob es sein Bett verlassen wird, und links eine tiefe Schlucht. Aber damals empfand ich das nicht so.

In seiner Erzählung »Sylvia« beschreibt Franz Jung einen dieser Familienausflüge: »Plötzlich brach es los, das Unwetter, aus heiterem Himmel; zur Not hätten wir zur Seilbahn zurückgehen können. Zuerst eine Flut von Beschuldigungen und Beschimpfungen. Ich schwieg, mehr überrascht durch die Heftigkeit, die Hemmungslosigkeit, mit der sie vorgebracht wurden. Die Gäste waren belustigt. Der Junge lief vor uns her, der Weg ging in Serpentinen ins Tal.

Dann wurde die Ablehnung substanzieller. Jahr für Jahr wurde aufgezählt, die verlorene Zeit, die nicht eingehaltenen Versprechungen. Die Übertreibungen, der Größenwahnsinn, alles was ich an Werten glaube oder geglaubt habe, wurde in den Dreck gezogen, das Vergangene und das Gegenwärtige – das große Nichts, die leere Schale, Schaubudenfigur – das war ich. Gegenstand des Ekels, der Abscheu und der Verachtung, eine absolute Null. Das ging so einige Stunden, im Grunde ohne Unterbrechung. Ich schwieg, die beiden Begleiter schwiegen verlegen und wahrscheinlich entsetzt, und der Junge drückte sich scheu herum. Wir gingen weiter bergab.

Es ging jetzt mehr ins Persönliche. Ich war zu alt, fast zwanzig Jahre älter, ich war widerlich alt, schmierig, stinkend, ich war einfach unerträglich. Es geht über ihre Kraft … Die Verhandlungen vor der Grenzkontrolle setzten der Redeflut ein Ende. Harriet fuhr am nächsten Tage mit ihren Freunden nach Zürich, ich nahm an, sie würde nicht mehr wiederkommen. (…) Aber Harriet kam wieder. Wir nahmen das Zusammenleben wieder auf. Es wurde nicht mehr darüber gesprochen.«

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4. Mai 1939

Liebes Peterchen,

ich habe mich sehr über deinen Brief gefreut. Es ist ja sehr schön, dass du in der Schule so gut lernst und so artig bist. Auch dass du so fein spielst.

Heute ist das Wetter hier schon besser und wohl bei euch auch. Dann wirst du sicher mit Mama viel spazieren gehen. Ich habe hier viel rumzulaufen und kann daher wenig schreiben. Aber ich freue mich schon sehr, dich und Mama in Zürich zu treffen.

Also bis dahin viele herzliche Grüße auch an Mama Dein Papa

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Kurz nach Ausbruch des Krieges mussten wir raus aus der Schweiz, aber ich wusste nicht, dass wir ausgewiesen wurden. Man sagte mir, wir ziehen jetzt um. Mein Vater fuhr vor, um eine Wohnung zu besorgen. Unser nächster Ort hieß Budapest. Später habe ich erfahren, dass mein Vater wegen Spionageverdacht ausgewiesen wurde. Diese Akten waren 50 Jahre gesperrt. Der erste Biograf meines Vaters, Arnold Imhof, kam nicht an die Akten ran, obwohl er Schweizer ist, denn sie wurden erst Anfang der neunziger Jahre freigegeben. Da las sie dann der zweite Biograf, Fritz Mierau.

Meine Mutter muss damals einen Pass gehabt haben. Sie selbst war nicht verfolgt. Meine Mutter war zwar Journalistin, aber sie hatte in Deutschland immer fürs Feuilleton gearbeitet. Ich glaube, sie hat nichts geschrieben, was die Nazis auf sie hat aufmerksam werden lassen. Sie konnte auch von Budapest aus nach Deutschland reisen.

Ich denke, sie war so eine Art Botin zwischen Franz und Cläre Jung. Tante Cläre behandelte mich, als sei ich ihr Kind. Eigentlich wäre ja normal gewesen, dass sie mit uns nichts zu tun haben wollte, weil meine Mutter ihr den Mann weggenommen hatte. Ich weiß nicht, ob Cläre Jung sexuell an Männern interessiert war. Ich glaube, sie war mehr eine Kumpanin, oder Kameradin, wie sie es selbst formuliert hat, meines Vaters als eine sexuelle Begleiterin. Ihr ganzes Aussehen und wie sie sich kleidete, war in meiner Erinnerung eine Verneinung ihrer Weiblichkeit. Mit dem Wissen von heute würde ich sagen, dass sie eine sehr strenge Feministin gewesen ist.

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Budapest den 7. Dezember 1940

Liebe Tante Klaire.

Ich möchte mich nur bedanken für dieses schöne Buch und der schöne Kalender. Diese beiden sind sehr fein, und erfreuen mich sehr. Ich wünsche auch viele Weinachtsgrüße.

Viele Grüße von Peter

Liebe Claire und Felix!

Wir haben euch mit gleicher Post ein Kilo-Päckchen Wurst geschickt und hoffen, dass es zu Weihnachten auch ankommt. Unsere neue Adresse ist: Budapest XI, Miasszonyunk utja 58.

Viele Grüße und gute Wünsche für Weihnachten

Eure Harriet