A Heft und Bomben

Wien, 1944/45. Von Annett Gröschner und Peter Jung

Als wir nach Wien kamen, hatte das neue Schuljahr schon angefangen. Ich kam auf ein Gymnasium. Die deutsche Schule in Budapest war ein Realgymnasium gewesen, ich hatte keine Ahnung von Griechisch, ich kannte noch nicht einmal die Buchstaben. Meine neuen Klassenkameraden waren im Stoff schon weit fortgeschritten.

Ich kam auch mit dem österreichischen Dialekt überhaupt nicht klar. Ein Lehrer sagte mir am ersten Tag, besorg dir a Heft. Ich verstand A-Heft, und dachte, gut, musst du dir das Heft A besorgen. Ich klapperte die Schreibwarenläden ab, aber die hatten die Bezeichnung A-Heft noch nie gehört. Ich musste ihm am nächsten Tag sagen, dass ich das A-Heft nicht bekommen konnte. Da hat der mich angeschrieen, du Lümmel. Ich war völlig eingeschüchtert.

Es war ein ganz anderes Klima als in der Schule in Budapest. In Musik musste jeder vorsingen. Das kannte ich nicht. Irgendwie wollten die Lehrer die Kinder einstufen, ob sie ein Gehör hatten oder nicht. Vielleicht wollten sie wissen, wer für den Schulchor geeignet ist. Im November 1944, die Russen standen vor Budapest! Ich komm dran, stehe allein vor dem Lehrer, der Rest der Klasse hinter mir, ich zögere, der schreit, sing los, ich singe und der Mann sagt, du hast überhaupt kein Gehör, geh auf deinen Platz, und die ganze Klasse lacht sich tot.

Ich war ein totaler Versager. Für mich war es eine enorme Erleichterung, als schließlich fast jeden Morgen gegen 11 Uhr Bombenalarm kam. Wenn der Rundfunk Vorwarnung gab, dass Bomber in Richtung Norden über den Alpen gesichtet werden, wurden wir nach Hause geschickt. Die Schule war dann vorbei für den Tag.

Ich hatte immer Angst, nicht genug Zeit zu haben, um vor den Bombern wieder in unserer Unterkunft anzukommen. Ich fuhr mit der Straßenbahn in den XIX. Bezirk, nach Grinzing, bis zur Endstation Hohe Warte. Ich habe die Fahrt über nichts von Wien gesehen, denn die Fensterscheiben der Straßenbahn waren dunkelblau gestrichen, damit abends kein Lichtschein nach außen drang. Aber bald hatten die Straßenbahnen keine Scheiben mehr, Schienen wurden getroffen und hingen verbogen in der Luft, und man konnte froh sein, wenn überhaupt eine Bahn fuhr. Von der Endhaltestelle lief ich den Berg hinunter bis zur Sandgasse und den Berg wieder hinauf bis zum Schreiberweg. Ich rannte um mein Leben.

Manchmal blieben die Bomber auch aus.

In den Wiener Straßenbahnen ist die Zeit stehen geblieben. Es scheint als führen nur Leute mit, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. »Bitte sich festzuhalten. Nichts hinausstrecken! Im Notfall an dieser Stelle kräftig nach innen ziehen. Vor dem Öffnen Bügel abziehen. Jugendliche bitte überlasst älteren und gebrechlichen Personen die Sitzplätze«, steht an den Fensterscheiben der Wagen.

In der Linie 37, die an der Votivkirche vor dem Sigmund-Freud-Park einsetzt, sagt eine Frau mit slawischem Akzent zu einem Mann: »In Deutsch ist alles ›unter‹, alles ›zu‹«. – »Aber auch ›auf‹«, sagt der Mann, »aufmachen zum Beispiel«. – »Aber zugemacht wird öfter«, sagt die Frau. Die Straßenbahn fährt durch den IX. Bezirk in Richtung XIX., Döbling, zu dem auch Grinzing gehört. Währinger Straße, Spitalgasse, Alserbachstraße, Nußdorfer Straße. Die Markthalle hat auf unbestimmte Zeit wegen Umbau geschlossen. Die Apotheke heißt Auge Gottes. Die Straßenbahn fährt unter den U-Bahngleisen des Währinger Gürtels hindurch. Links geht es nach Budapest. Hinter dem Gürtel werden die Häuser niedriger.

An der Döblinger Hauptstraße sagt eine Frau in ihr Handy: »Das wird nie wieder so wie es einmal war.« In den Gärten blühen die Magnolien. An der Hohen Warte geht es wirklich sehr steil hinunter. Der Weg endet an einer Einkaufsstraße. In einem der Häuser am Sandweg ist heute die südafrikanische Botschaft. Jemand hat »Kaprun 2000« an eine der Mauern gesprüht, die die zahlreichen Villen abschirmen. Die Gegend muss Peter Jung vertraut gewesen sein. Die in den Hang gebauten Häuser, zu denen man über serpentinenartige Straßen gelangt, erinnern an den Budapester Adlerberg. Nur dass es in Budapest städtischer zugeht.

Wir wohnten bei einem Freund meiner Eltern. Der hatte eine kleine Villa mit Garten. Abends ging der Wind ums Haus. Er kam mir heftiger vor als in Budapest, aber vielleicht schien es mir nur so, weil die Angst sich langsam einschlich in meinen Körper. Es war sehr eng da, meine Mutter und ich wohnten in einem kleinen Zimmer. Das einzige Gute war, dass ich in diesem Haus Kriminalromane von Edgar Wallace fand. Ich las einen durch und fand den gut, und dann las ich noch einen und noch einen, und plötzlich war ich ein Fan von Kriminalromanen. Meine Mutter versuchte, so viel Normalität wie möglich in unser Leben zu bringen. Manchmal aßen wir in einer der Grinzinger Heurigen-Wirtschaften unterhalb der Villa, die noch nicht aus kriegswichtigen Gründen geschlossen waren.

Im Schaukasten einer Wirtschaft am Sandweg hängt ein Foto des letzten amerikanischen Präsidenten, der, neben einem älteren Herrn mit bunter Krawatte stehend, ein Grinzinger Grund- und Boden-Zertifikat in die Kamera hält. »Bill Clinton – Ein Grinzinger!«, verkündet das Plakat.

Im Grinzinger Hof sitzen drei »Milde Sorte« rauchende Damen. »Uns drei könnte man doch glatt für sechzig halten. Dabei sind wir schon über achtzig«, sagt die Korpulenteste etwas zu laut, dass es auch der letzte Gast hören muss. – »Ich bin neunzig«, protestiert die, die auf der Bank am Fenster sitzt. Sie trägt eine Frisur, die an einen Punk erinnert. Die ganze Zeit haben sie sich über einen Schauspieler unterhalten, den alle drei »fesch« finden, trotz seiner Brille aus Fensterglas, deren rechter Bügel ein Hörgerät ist. Zwischendurch kauen sie an Kässpätzle und Wiener Schnitzel.

Als sie mit dem Schauspieler fertig sind, reden sie über ihre Männer, von denen zwei nicht mehr zu leben scheinen. »Mein Mann hat immer gesagt, beim Essen will ich nicht arbeiten, deshalb gab‘s bei uns nie Fisch.« – »Ich habe mein Schlafzimmer abdichten müssen, weil ich beim Sex immer so schreie. Jetzt kann ich mich gut entspannen«, sagt die Korpulente. Die anderen beiden kichern. »Als ich jung verheiratet war, habe ich immer die Knödel fallen lassen, wenn mein Mann von der Arbeit kam, und dann sind wir sofort ins Schlafzimmer gesprungen.« Die mit der Punkfrisur lässt sich vom Wirt das Auto aus der Garage fahren. »Gehen wir wieder mal her. Was, Sissy?« Sie lachen ein Hexenlachen. »Also heute Abend ess ich nichts mehr.« – »Brav.«

Nur einige Schritte weiter fährt die Linie 38 in die Innenstadt zurück. 1944 verkehrte sie wegen der Zerstörungen nicht.

Im November 1944 fuhren wir einen Vormittag mit dem Zug nach Baden bei Wien. Man suchte zu der Zeit nach irgendwelchen Abwechslungen, und meine Mutter ist gerne irgendwo hingefahren, einfach so, mal gucken. Das war eine Fahrt ins Blaue, mit dem Vorortzug. Vielleicht suchte sie auch nach Hans Wisser, von dem sie wusste, dass er sich nach Baden versetzen lassen wollte.

Gegen Ende des Jahres 1944 nahmen die Bombenangriffe zu, Tag und Nacht kamen die Flugzeuge, manchmal mehrmals am Tag. Wir kamen aus dem Luftschutzkeller kaum noch heraus. Die Leute im Keller sagten immer, wenn die Flugzeuge näher kamen, dass sie das Baldur von Schirach zu verdanken hätten, der auch in der Straße lebte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt gar nicht da war. Das ist sicher Unsinn gewesen, denn die Bomber waren damals noch nicht sehr treffsicher, und außerdem war Baldur von Schirach nur Jugendführer.

Baldur von Schirach war zu dieser Zeit schon vier Jahre Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien. Er, der für die Deportation der österreichischen Juden seit 1941 verantwortlich zeichnete und dafür in den Nürnberger Prozessen zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, regierte seit dem Beginn der Bombenangriffe 1944 gleich nebenan, in einem Bunker auf der Hohen Warte. Am 24. Februar 1945 wurde er nach Berlin zu Adolf Hitler bestellt und bekam den Befehl, als Reichsverteidigungskommissar Wien bis zum letzten zu verteidigen. Erst am 6. April verließ er die Hohe Warte in Richtung Hofburg, gezwungenermaßen, denn die Widerstandsbewegung hatte dem Stab elektrisches Licht und Telefon gekappt.

Am Morgen nach einem Nachtangriff war es immer ein Spaß, im Garten der Villa nach Bombensplittern zu suchen. Das Metall hatte durch die Explosion bizarre Formen angenommen. Kein Teil sah wie das andere aus, und ich fing gleich wieder an zu sammeln. Aber meine Mutter hasste diese Dinger und verbot mir, sie in meinem Koffer aufzubewahren.

Es gab keinen Hausmeister in dem Haus. Ich machte mich nützlich und schaufelte den Schnee weg. Es war eine stille Gegend. Wahrscheinlich auch etwas feiner als in der Innenstadt. Ich war zwar fünf Monate in Wien, aber durch die Bombenangriffe war mein Radius, anders als in Budapest, doch sehr eingeschränkt.

Bald mussten wir aus mir unerklärlichen Gründen aus der Villa raus. Vielleicht kam Besuch oder uns fehlten die Lebensmittelkarten. Vielleicht hatte dort oben, in der Nähe von Baldur von Schirach auch jemand zu genau wissen wollen, wer wir waren. Vielleicht hielt man uns für Juden. Es war nicht mehr erlaubt, unangemeldet Besuch zu empfangen.

Verstöße gegen die Meldepflicht werden streng bestraft. Alle Frauen vom 17. bis zum 50. Lebensjahr werden am 29. Januar 1945 zur Meldung für Aufgaben des Reichsarbeitsdienstes aufgerufen. Anfang März wird in umfangreichen Anzeigen darauf hingewiesen, dass alle Personen, die ihren Wohnsitz verlassen, am neuen Wohnort der Meldepflicht nachkommen müssen. Wird dieser Nachweis nicht unverzüglich geführt, so hat der Beherberger sofort bei der polizeilichen Meldebehörde Meldung zu erstatten. Wer von Personen weiß, die verdächtig sind, sich der Wehr- oder Arbeitspflicht zu entziehen, muss sofort bei der nächsten Polizeibehörde Anzeige erstatten.

Wir packten also wieder unsere Koffer. Ich nahm heimlich einen Edgar Wallace mit, den ich bald wieder verlor. Mutter mietete uns ein Zimmer im Hotel Bristol, gegenüber der Oper. Finanzielle Probleme hatten wir noch nicht, denn mein Vater hatte meiner Mutter genügend Geld mitgegeben. Es gab damals keinen Hotelbetrieb mehr, es waren größtenteils Umquartierte, die dort Unterschlupf gefunden hatten. Wir haben jeden Abend im Restaurant des Bristol gegessen. Ich weiß nicht, wie es meiner Mutter damals ging und woher sie die Kraft nahm, mir das Leben noch so normal wie möglich zu gestalten. Sie hatte sich das ganze Exil bis hierher immer auf meinen Vater verlassen können. Jetzt hatten wir nur noch sein Geld, aber auch das ging langsam zur Neige.

Die Nachrichten aus Budapest lassen nichts Gutes ahnen. Seit Weihnachten ist die Stadt von der Roten Armee eingekesselt. Es wird Haus um Haus, Straße um Straße gekämpft. Es ist zu befürchten, dass Wien gleiches bevorsteht. Am 10. Januar kann Peter Jung auf dem Titel der Kleinen Wiener Kriegszeitung lesen: »Zähes Ringen um Budapest«, am 18. Januar ist Pest von der Roten Armee besetzt, Anfang Februar die ganze Stadt. Fast jeden Tag wird Wien bombardiert.

Trotz des Reiseverbots werben Apotheker für ein Mittel gegen Reisekrankheit: »Erst siegen – dann reisen! Wenn Sie aber jetzt eine kriegswichtige Reise durchzuführen haben, dann nehmen Sie zur Vermeidung von Übelkeit in überfüllten Zügen vor Fahrtbeginn zwei Tabletten Peremesin.« Am 29. Januar wird bekannt gegeben, dass die Eröffnung der Wiener Schulen am 5. Februar nach den Winterferien wegen Fehlens von Heizmaterial auf Ende Februar verschoben wird. Peter Jung wird in Wien keine Schule mehr von innen sehen, die Schüler müssen nur einmal in der Woche zum Schulappell gehen, wo sie Hausaufgaben bekommen.

Am 12. März gibt es den größten Luftangriff auf Wien, die Innenstadt wird schwer beschädigt. Die Staatsoper gegenüber dem Hotel Bristol brennt einen ganzen Tag. Die Dichterin Paula von Preradovic steht ein paar Tage später fasziniert vor den Trümmern: »Man sieht den Rundbogen, der die Bühne nach oben begrenzt, sich nackt unter den Wolken des Himmels krümmen.« Auch die Universität ist in Mitleidenschaft gezogen.

Fast auf den Tag genau 57 Jahre später stehe ich im Katalograum der Universitätsbibliothek und suche unter den Stichworten Geschichte Wien Zweiter Weltkrieg Besatzung nach Zeitzeugenberichten dieser fünf Monate, in denen Peter Jung in der Stadt war. Robert Blauensteiners »Wien 1945« ist im Fachbereich für Zeitgeschichte, Liesbeth Waechter-Böhms »Wien 1945 – davor – danach« im Fachbereich Europäische Ethnologie, Elisabeth Draxlers »Wien im April 1945« im Fachbereich für Geschichte und Paula Predadovic‘ »Wiener Chronik 1945« bei den Germanisten. Die Fachbereiche sind über die ganze Innenstadt verstreut. Die Bibliothek schließt in zwei Stunden.

Im Februar tauchte Hauptmann Wisser wieder auf. Als wir aus Budapest weggingen, war er dageblieben, war aber Anfang 1945 zur Ortskommandantur in Baden bei Wien versetzt worden. Das Eigenartige ist, zu dieser Zeit war in Wien die halbe Familie versammelt, ohne dass wir voneinander wussten. Mein Vater wurde im November in Budapest vom Sicherheitsdienst verhaftet und nach Wien gebracht. Er konnte entkommen, tauchte unter und wurde Anfang des Jahres im St.-Elisabeth-Spital in Baden bei Wien behandelt, wo Wisser sich aufhielt, den mein Vater ja kannte, wahrscheinlich sogar in die Familie eingeführt hatte.

Auch Dagny, meine Halbschwester, hielt sich zur gleichen Zeit in Wien in der Psychiatrischen Klinik des Allgemeinen Krankenhauses auf. Jeden Tag bin ich mit der Straßenbahn nur wenige hundert Meter an ihr vorbeigefahren. Sie starb am 22. März. Mein Vater war bis zuletzt der Meinung, sie sei bei der Evakuierung des Krankenhauses durch eine Injektion getötet worden. Die Dagnygeschichte ist eine komplizierte und ziemlich schreckliche Geschichte. Erst hat sich mein Vater jahrelang nicht um sie gekümmert und als sie dann langsam Vertrauen zu ihm gewann, nahm er ihr den Bräutigam weg, um Sylvia mit ihm zu verheiraten. Wenn man das so in drei Sätzen versucht zusammenzufassen, kann man schon der Meinung sein, dass er ein ziemlicher Scheißkerl war.

Die Wunde Dagny. Seiner Tochter hat Franz Jung seinen persönlich schonungslosesten Text gewidmet: »Das Jahr ohne Gnade«. Mit ihr kam seine »Technik des Glücks« an ihre Grenzen – der Versuch, das bürgerliche Familiensystem und mit ihm moralische Abhängigkeiten zu unterlaufen. Geheiratet wurde nur aus pragmatischen Gründen, für Leben und Arbeit gab es den Klan, über alle Grenzen und Gefühle hinweg. Die Erwachsenen hatten die Wahl – sie konnten das Unternehmen Franz Jung verlassen. Seine Kinder aber, die Sicherheit und Geborgenheit benötigten, konnten nicht nachvollziehen, was mit ihnen passierte. Frank und Dagny wurden aus dem System ausgeschieden.

Peter, der fast eine Generation später Geborene, hatte mehr Glück – paradoxerweise durch die Verhältnisse. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten durchkreuzte geplante Unternehmungen Franz Jungs, er tauchte als Hausmann und Vater im Grunewald unter. Die emotionale Nähe zu seinem Sohn blieb, über alle Verwerfungen hinweg, bis zu seinem Tod.

Auf Dagny, die in ihrer Kindheit zwischen Mutter, Großeltern und Vater hin- und her gestoßen wurde, hatte Franz Jung eine große Anziehungskraft. Sie interessierte sich schon als sehr junge Frau für seine Wirtschaftskorrespondenzen und wurde schließlich von ihm, der ihr Talent erkannte, in seine halb- bis illegalen Geschäftsverbindungen eingeweiht. Auch beging sie auf eigene Faust nach Jungs Vorbild Nachrichtensabotage, wurde verhaftet und verhört. Im Januar 1944 hatte sie einen Zusammenbruch. Franz Jung besuchte sie unter Lebensgefahr in der Greifswalder Klinik und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie bedingungslos sie an ihm hing. Ihr Verlobter Hansjörg von Meißner lebte zu dieser Zeit in Budapest.

Es ist nur schwer zu erklären, was dann passierte. Franz Jung, der kurz zuvor versucht hatte, für Harriet einen Beschützer an seiner Statt zu finden, verheiratete Hansjörg von Meißner mit seiner eigenen Freundin Sylvia in Budapest, einschließlich Fotografen, Trauzeugen und Essen im Gellert. Eine Scheinheirat, gewiss, um der Frau einen gesellschaftlichen Namen zu geben, mit dem es ihr gelang, aus dem Barmilieu zu entkommen. Aus Dagnys Sicht, falls sie die genauen Umstände je erfahren hat, muss es ausgesehen haben, als verschachere der Vater ihren Freund.

Franz Jung versuchte sich später damit zu beruhigen, dass die Beziehung zwischen Dagny und Meißner damals schon problematisch gewesen sei, was aber nach den besorgten Briefen, die Meißner schrieb, zu bezweifeln ist. »Ich wusste, dass die Tochter die intime Freundschaft längst gelöst hatte, der Mann bot zu wenig Halt, Blatt im Wind, sehr gutmütig, sehr anständig, sehr weich und Dagny sehr zugetan. Der Junge war sogleich bereit, mir den Gefallen zu tun, Sylvia zu heiraten.« (Franz Jung, Sylvia)

Meißner, der danach vergeblich versuchte, die Ehe zu annullieren, Sylvia hatte inzwischen Gefallen an der Sache gefunden, ist im Kriegsgeschehen der letzten Monate verschollen. Dagny wurde bei einem Fluchtversuch in Wien von der Polizei aufgegriffen, in ein Arbeitskommando in der Steiermark zwangsverpflichtet und nach einem Selbstmordversuch in die geschlossene psychiatrische Abteilung des Wiener Allgemeinen Krankenhauses eingeliefert.

In den verwinkelten Gängen des Fachbereichs Geschichte stehend, lese ich in der wissenschaftlichen Arbeit von Elisabeth Draxler: »Anfang April 1945 erhielten (…) Einheiten der Waffen-SS Befehl, alle großen Gebäude der Stadt in Festungen zu verwandeln. Dazu besonders geeignet erschien der Waffen-SS der Gebäudekomplex des Allgemeinen Krankenhauses. Hier befanden sich aber nicht nur rund 4000 Patienten, darunter viele verwundete Soldaten, sondern auch Hunderte Frauen, Kinder und politisch gefährdete Menschen, die Unterschlupf gesucht hatten. Durch den mutigen Einsatz der Ärzte blieb das Allgemeine Krankenhaus jedoch vom Krieg verschont.«

Die offizielle Todesursache Dagny Jungs war eine schwere Lungenentzündung. Was wirklich passiert ist, wird wohl immer im Dunkeln bleiben. Dass Franz Jung so vehement meinte, sie sei bei der Evakuierung des Krankenhauses durch Injektion getötet worden, scheint wie ein Versuch, die eigene Gnadenlosigkeit, wie er sie in dem Text »Jahr ohne Gnade«, über Dagnys letztes Jahr beschreibt, etwas abzumildern. Trotzdem wurde die Erzählung zu einer Abrechnung mit sich selbst.

Im Februar hat meine Mutter Hans Wisser geheiratet. Wann meine Eltern die Zeit gefunden hatten, sich scheiden zu lassen, ist mir nicht bekannt. Vielleicht hat meine Mutter meinen Vater ja auch für tot erklären lassen.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Annett Gröschner/Peter Jung: Ein Koffer aus Eselshaut. Berlin – Budapest – New York. Edition Nautilus, Hamburg 2004, 288 S., 22 Euro. Die Texte wurden leicht gekürzt.