Mit dem Rücken zur Wand

Perus Präsident Toledo ist bemüht, sein Mandat über die Zeit zu retten. Das wird nur klappen, wenn sich die sozialen Unruhen im Land nicht ausweiten. von rolf schröder, lima

Fernando Cirilio Robles musste sterben, weil er als korrupt galt. Der Bürgermeister der Aymara-Gemeinde Ilave, unweit des Titicacasees, wurde am 26. April zusammen mit einem Mitarbeiter von einer wütenden Menschenmenge aus seinem Haus gezerrt und gelyncht. Er soll öffentliche Gelder für die Asphaltierung einer Straße veruntreut haben. Bereits seit Anfang April waren 25 000 BewohnerInnen der Region deswegen in einen unbefristeten Streik getreten. Der Güterverkehr zwischen Peru und Bolivien blieb wochenlang blockiert.

Die Situation droht, weiter zu eskalieren. Die Polizei verhaftete sechs Personen, die verdächtigt werden, an der Lynchaktion beteiligt gewesen zu sein. Aus Lima reiste eine Regierungskommission an und setzte ohne Konsultation der Bevölkerung einen neuen Bürgermeister ein, der als Vertrauter von Robles gilt. Tausende von Menschen sperrten daraufhin bis auf weiteres alle Zufahrtswege nach Ilave. Sie fordern die Freilassung der Inhaftierten und drohen mit einem Sturm auf das Gefängnis. Außerdem bestehen sie auf dem sofortigen Rücktritt des neuen Bürgermeisters und des Präsidenten Alejandro Toledo, dem sie vorwerfen, die Region vernachlässigt zu haben.

Die Vorfälle machen deutlich, wie explosiv die Situation in der verarmten Region der Aymara-Indígenas ist. Dabei ist es im Andenhochland derzeit keine Seltenheit, dass BürgerInnen korrupte BürgermeisterInnen oder StaatsanwältInnen davonjagen. Aber das Beispiel Ilave zeigt, dass ein Teil des Zorns, der PolitikerInnen und Staatsbeamte trifft, sich gegen die Regierung in Lima richtet. Denn sie bekommt die sozialen Probleme des Landes nicht in den Griff und hangelt sich ebenfalls von Korruptionsskandal zu Korruptionsskandal. Deshalb wird Präsident Alejandro Toledo Meinungsumfragen zufolge nur noch von acht Prozent der Bevölkerung unterstützt.

Symptomatisch für die gesamte öffentliche Verwaltung ist der Zustand der Justiz. Deren Rückgrat bilden weiterhin korrupte Beamte aus der Zeit der Diktatur Alberto Fujimoris. Ob es um Massenmorde der Armee während des Bürgerkrieges geht oder um Wirtschaftsverbrechen von MinisterInnen und FunktionärInnen des Fujimori-Regimes, die Milliarden Dollar aus der Staatskasse stahlen, bleibt die Staatsanwaltschaft grundsätzlich untätig, ignoriert reichlich vorhandenes Beweismaterial oder verschleppt die Fälle. ExpertInnen stimmen darin überein, dass RichterInnen und StaatsanwältInnen heute so käuflich sind wie früher. Die Justiz wird nur nicht mehr wie zu Fujimoris Zeiten vom Geheimdienst gelenkt.

Dafür geht es zumindest in der Wirtschaft voran. Das Bruttoinlandsprodukt wächst in diesem Jahr zum dritten Mal um mehr als vier Prozent. Allerdings sind nur 15 Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung fest angestellt, die Arbeitslosigkeit steigt ebenfalls. »Das Rezept des peruanischen Wachstums ist ein pures, reines Exportmodell: die Ausfuhr unverarbeiteter Rohstoffe. Unsere Exportindustrie bleibt unterentwickelt«, erläutert der Wirtschaftswissenschaftler Oscar Ugarteche. Solange es noch Rohstoffreserven gibt, solange die Rohstoffpreise steigen, boomt die Wirtschaft.

Zum Beispiel die Minen: In diesem Jahr werden Mineralien im Werte von sechs Milliarden US-Dollar exportiert – ein neuer Rekord. Die Arbeitsbedingungen bleiben derweil so schlecht, dass Minenarbeiter kürzlich im ganzen Land streikten. Rund um die Minen verarmen die Regionen weiter. Denn auf ihre gigantischen Umsätze zahlen die transnationalen Minenunternehmen nur zwei Prozent Steuern. Und kein einziger Centavo davon bleibt in der Region.

In Ilave oder anderswo auf dem Land ist der Wirtschaftsboom erst recht nicht angekommen. Der Anteil des Agrarsektors am Sozialprodukt sank in den letzten 20 Jahren auf die Hälfte. Immer mehr Bauern versuchten ihr Glück daher mit dem Anbau von Koka, dem rentabelsten Agrarprodukt. Weil aber die Drogenpolizei neue Pflanzungen zerstört, blockierten tausende Kokabauern Ende April zwei Tage lang das Tropendorf Tingo María und machten sich anschließend auf einen Protestmarsch über die Anden nach Lima. Dort sind sie inzwischen auf protestierende LehrerInnen und streikende ÄrztInnen getroffen.

Die Regierung ist wegen der sozialen Unruhen zu Verhandlungen und Zugeständnissen gezwungen. So versprach sie, die Hungerlöhne der LehrerInnen von etwa 200 US-Dollar monatlich einmal pro Jahr um 15 Prozent zu erhöhen. Gleiches gilt für andere staatliche Angestellte. Um das nötige Kleingeld dafür in die Kassen zu bekommen, hat die Regierung eine Steuer auf alle Finanztransaktionen erhoben. Zusätzlich nimmt sie neue Kredite auf, obwohl bereits 25 Prozent des Staatshaushalts in den Schuldendienst gehen. Und sie beginnt, letzte Reste des staatlichen Tafelsilbers zu versetzen: Aktien der Raffinerie Pampilla.

Die neu erschlossenen Einkommensquellen reichen fast nur für die Gehaltsaufbesserungen. Deshalb bleiben die staatlichen Bildungsausgaben pro SchülerIn geringer als in den ärmeren Nachbarländern Bolivien und Ecuador. Das staatliche Sozialversicherungsprogramm, insbesondere die Gesundheitsversorgung der ärmeren Bevölkerung, steht kurz vor dem Kollaps. Um den zu verhindern, so errechnete der bis Anfang des Jahres amtierende Gesundheitsminister Alvaro Vidal, müssten im Haushalt 2004 mindestens 200 Millionen US-Dollar zusätzlich in das Gesundheitssystem gepumpt werden. Die Regierung brachte nur 70 Millionen auf, die vielleicht gerade reichen, um den Zusammenbruch bis zu den Wahlen im Jahre 2006 hinauszuzögern.

Der linke Kongressabgeordnete Javier Diez Canseco fasst zusammen: »Die Regierung setzt nur einen Schwerpunkt für die Entwicklung: private Investoren ins Land zu locken. Dafür tut sie alles, bis hin zur Steuerbefreiung.« So ist es kein Zufall, dass der Anteil der Steuereinnahmen am Sozialprodukt mit 13 Prozent deutlich niedriger ausfällt als in allen Nachbarländern. Ohne Geld gibt es aber keine Reformen. Deshalb, so Diez Canseco, gehe es dem Präsidenten nur noch um sein Amt. Seine Politik könnte sich künftig auf Versuche beschränken, mit ÄrztInnen zu verhandeln, die LehrerInnen hinzuhalten oder Kokabauern zu spalten. Auf diesem Feld agiert die Regierung zusehends erfolgreicher. Toledo bemüht sich außerdem, größere Korruptionsskandale zu vermeiden und verdächtige Minister rechtzeitig zu entlassen. Die Stagnation wird zum Regierungsprogramm.