Über die Wupper

Raus Abschiedsrede von stefan wirner

War es nun endlich seine lange erwartete »Ruck-Rede« oder nicht? Für einige Zeitungen war sie es. Bundespräsident Johannes Rau habe in seiner letzten Berliner Rede den »Eliten die Leviten« (taz) gelesen und eine »letzte Standpauke« (Hamburger Abendblatt) gehalten. Heribert Prantl schrieb in der Süddeutschen Zeitung, Rau habe eine »Mutmach-Rede« gehalten und sich als »pointierter und kundiger Mahner« erwiesen. Die Rede sei »das kluge Finale einer Reihe von großen Reden« gewesen. Man fragt sich, ob Prantl ein neues technisches Gerät sein eigen nennt, das vor Moral triefenden Sermon in »große Reden« verwandelt. Einen »Johannes-Transponierer« oder etwas in der Art.

»Vertrauen in Deutschland – Eine Ermutigung« war Raus fünfte Berliner Rede überschrieben. Die Tradition der Berliner Reden wurde von dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog 1997 ins Leben gerufen, seither stellt sie den moralischen Flankenschutz für die Berliner Republik dar.

Wie diese Reden funktionieren, führte Rau schon in seiner ersten im Jahr 2000 vor. Sie wurde seinerzeit von Ausländerverbänden bis zu den Grünen mit großem Lob aufgenommen, obwohl Rau, ganz der gute Mensch von Wuppertal, vor einer »falsch verstandenen Ausländerfreundlichkeit« gewarnt und das Zusammenleben mit Ausländern als »schwierig« und »anstrengend« beschrieben hatte (Jungle World, 22/99). Die Technik der Berliner Rede besteht darin, Heuchelei, Moral und Populismus gut dosiert und im richtigen Verhältnis zueinander so in einem Text zu verstauen, dass am Ende die Unwahrheit wahr erscheint und alle zustimmen.

In seiner vierten Berliner Rede im Mai 2003 warnte Rau angesichts des Irakkrieges vor einem »Gewöhnungsprozess«, an dessen Ende »militärische Intervention und Krieg ein Instrument unter vielen« sei. Dabei ließ er sich selbst während eines Krieges zum Präsidenten wählen, im Mai 1999, als sich deutsche Soldaten im Kampfeinsatz im ehemaligen Jugoslawien verdient machten.

Dieses Mal bemerkt Rau einen »Vertrauensverlust« in Deutschland und konstatiert: »Wir fangen schon an, hämisch und schulterzuckend über uns selber zu sprechen.« Was ist dagegen einzuwenden? Vieles von dem, was Rau beklagt, muss eher als ein hoffnungsvolles Zeichen bewertet werden, etwa wenn er darauf hinweist: »Häufig glauben die Bürgerinnen und Bürger einfach nicht mehr, was sie hören und sehen.« Oder wenn er mahnt, es entstehe »der fatale Eindruck, in der Politik komme es letztlich nur darauf an, wer die Macht hat und nicht so sehr, was er mit ihr macht«.

Bezeichnet er die Arbeitslosigkeit als »größte Wunde der Gesellschaft«, verschweigt der »pointierte und kundige Mahner« gleichzeitig, wie die Bundesregierung mit den Arbeitslosen umspringt. Lieber kritisiert er, weil es gerade en vogue ist, »Egoismus, Gier und Anspruchsmentalität in Teilen der so genannten Eliten«. Es gebe Personen, die »ungeniert in die eigene Tasche wirtschaften«. Wer hätte das gedacht.

Jeder, der etwas verändern wolle, »muss sich einmischen, muss mitarbeiten, muss Verantwortung übernehmen für unser Land«, fordert Rau. Dass man immer weniger Zeit »für unser Land« hat, weil man sich in drei interessanten Jobs um den Lebensunterhalt mühen muss – was kümmert’s den Mutmacher? Er will ja nur eine Berliner Rede halten.

Am Ende bleibt nicht einmal der Trost, dass mit den mahnenden Psalmen des Johannes Rau nun Schluss ist. Denn nach Rau kommt zwar nicht die Sintflut, aber Horst Köhler.