Was heißt hier Kunst?

Der Streit um die Ausstellung »When love turns to poison«. von ines kappert

Eine kleine Zeichnung von Frank Gaard lieferte der »Skandal«-Ausstellung »When love turns to poison« in Berlin-Kreuzberg die Vorlage: Zu sehen sind eine mit schnellen Tintenstrichen hingeworfene Unterhose, darauf der Name »Victorine Meurent«; zwei männliche Profile mit großen Nasen, drei erigierte Schwänze, daumengroß und rot nachkoloriert, und zwei Zeigefinger, die aufs Höschen deuten. An den Rand ist »When love turns into poison« gekritzelt. Fetisch Unterhöschen, ist das das Thema der Ausstellung?

In der Presseerklärung ist zunächst mehr von Édouard Manet und seinem grausam vernachlässigten Modell Victorine Meurent die Rede. Und davon, dass man die in der Kunst vielfach und nicht zuletzt anhand von Manets »Olympia« (1863) diskutierten Themen Sexualität und bürgerliche Identität »ganz direkt – jenseits der theoretischen und akademischen Diskurse aufnehmen« wolle.

Aber eigentlich, und darauf hinzuweisen ist dem Kurator Stephàne Bauer zum Abschluss der Ausstellung des Kunstraum Kreuzberg/Bethanien ein Anliegen, bildeten nicht ein Konzept oder ein Thema den Ausgangspunkt der Ausstellung, sondern die Freundschaft zu dem Kreuzberger Künstler Thomas Hauser, dem bislang in Berlin eine Auftrittsfläche gefehlt habe. Kurz darauf kamen die KünstlerInnen Mathias Seidel und Françoise Cactus hinzu, und in Gesprächen der vier Freunde nahm die Idee zur artistischen Visualisierung von Männer-Mädchen-Phantasien Gestalt an.

Keine und keiner der an der Ausstellung beteiligten KünstlerInnen, am Ende waren es sieben, so Bauer, hätte je damit gerechnet, den Furor der Morgenpost, der Bild und der B.Z. auf sich zu ziehen. Diese Blätter hatten die Ausstellung mit dem Vorwurf überzogen, sie zeige Kinderpornografie, und ihr die Polizei ins Haus geschickt. Da die Objekte der Erregung in keiner Weise gegen die bundesrepublikanische Rechtsordnung verstoßen, ergriff die Boulevardpresse andere Maßnahmen. Bild dokumentierte Arbeiten der Ausstellung und legte geschickt schwarze Balken über Brüste und Vagina der angeblich vom Künstler feilgebotenen Mädchenkörper und suggerierte damit pornografische Nacktheit, wo der Künstler bereits verfremdend und verhüllend tätig war.

Auf keiner Arbeit ist nacktes Fleisch und schon gar nicht von Kindern zu sehen. Die von Thomas Hauser gemalten oder fotografierten Frauen haben die 20 deutlich überschritten und das vorrangige Thema seiner Arbeiten scheint die Erotisierung des Frauenkörpers durch seine Infantilisierung zu sein. Mit Pornografie oder gar der Reduzierung von Kindern zum Sexobjekt hat dies wirklich gar nichts zu tun.

Von solchen Finessen gänzlich unbeeindruckt, forderte die Boulevardpresse den Rücktritt der Kreuzberger PDS-Bürgermeisterin Cornelia Reinauer wegen Verschleuderung von Steuergeldern für Kinderpornografie. Den Künstler Matthias Seidel, einen Grundschullehrer, traktierte die Morgenpost mit besonderer Intensität und vergaß auch nicht, die Eltern einiger SchülerInnen anzurufen, um nachzufragen, ob sie ihre Kinder von so einem Lehrer unterrichten lassen wollten. Denn in dieser Ausstellung würden Vorlagen für Pädophilie geschaffen. Der Kinderschutzbund forderte von den Veranstaltern eine klare Positionierung. In der Folge wurden den Arbeiten schriftliche Kommentare der KünstlerInnen beigefügt. Am vorletzten Tag der Ausstellung marschierten als Schlusslichter der rechtspopulistischen Protestbewegung Neonazis vor dem Künstlerhaus Bethanien auf.

Das Kunstprojekt organisierte eine Unterschriftenliste. Mit dem Hinweis darauf, dass die von der Boulevardpresse gestartete Kampagne »in der Stimmungsmache durchaus an die Kampagne ›Entartete Kunst‹« erinnerte, forderte man mit der Liste zum solidarischen Schulterschluss auf. Die Begründung für diesen alles andere als einsichtigen Link: BZ und Bild setzten »das Wort Kunst und Künstler in diesem Zusammenhang gern in Anführungszeichen, wie es auch seinerzeit schon getan wurde«.

Auch die zur Finissage stattfindende Diskussionsveranstaltung »Bild – Macht – Rezeption. Kunst im Regelwerk der Medien« zeigte, dass dem einen oder anderen Solidarischen die Urteilskoordinaten ziemlich durcheinander geraten sind. Die Kunsttheoretikerin Silke Wenk etwa schreckte nicht davor zurück, den Nazi-Vergleich erneut einzusetzen, diesmal um dem Publikum die in Bild und BZ gebräuchlichen Mechanismen der Skandalisierung vor Augen zu führen. So werde heute wie damals das als pervers Stigmatisierte beständig und in hohen Auflagen gezeigt, und exakt in dieser Doppelmoral liege die Sogkraft solcher Kampagnen. Dass die Bezugnahme auf das Dritte Reich für diese keineswegs neue Erkenntnis nur dazu dient, die eigenen, wenig bewegenden Worte ein wenig bedeutsamer erscheinen zu lassen, liegt auf der Hand.

Insgesamt war auffällig, dass politische Analysen oder auch nur Selbstreflexionen die Ausnahme blieben. Stattdessen verteidigte man mit Verve das Recht der Kunst auf Ambivalenz. Damit sind wir wohl beim Grundproblem der Ausstellung angelangt: dem »direkten« und »nicht akademischen« Umgang, wie es der Pressetext ankündigt, mit dem mehrdeutigen Ersatzobjekt Mädchen in der bildenden Kunst. Vielfach surfen die Arbeiten geradezu auf dem zwiespältigen Affekt, den das Spiel mit dem Fetisch »Mädchen« auslöst. Ohne klare Distanzierung, zielen sie auf einen spielerischen oder gewollt naiven Umgang mit dem infantilisierten Ersatzobjekt. Entsprechend lassen nur wenige Arbeiten, wie etwa die von Françoise Cactus in Topflappenmanier gestrickte Sexpuppe »Wollita« oder die Videoarbeiten von Stu Mead, eine Positionierung der KünstlerInnen erkennen.

Zwar kann das Fehlen einer Metaebene, die dem Publikum Orientierung bietet, durchaus interessante Effekte produzieren. Denn dieses Fehlen erlaubt, das Zusammenspiel von Anziehung und Schrecken, das jedem Fetisch zugrunde liegt, ohne pädagogische Übergriffe in den Blick zu ziehen. Im Fall der Kreuzberger Ausstellung zeigt sich jedoch, dass die fehlende Programmatik und der naive Umgang mit Ambivalenz der Hysteriewelle nichts entgegensetzen kann, die das Thema Sexualität und Infantilität auszulösen vermag. Die Ausstellung hat sich diesem Sujet auf unreflektierte Weise genähert, ist der Boulevardpresse in ihr Gehege gestolpert und wurde angesichts der ungleichen Waffenlage von den Profis in Sachen Männerphantasien überrollt. Sie wirft die BetrachterInnen zurück auf das, was sie vorher schon wussten: Das Lolita-Phänomen ist eine tief in unsere Kultur eingelassene Männerphantasie und also ein öffentliches Geheimnis, das zu exponieren nicht geduldet wird.