Wir sind noch nicht so weit

Es ging um Widerstand, Perspektiven, eine andere Politik. Doch einen Plan, wie es dazu kommen kann, gibt es nicht. Vom Perspektivenkongress berichtet karl hoffmann

Immerhin ruft mal wieder jemand zum Generalstreik auf.« Michael Bretzinger lacht, faltet das Flugblatt mit dem Streikappell sorgfältig zusammen und verstaut es in seinem Lederbeutel. Aufmerksam schaut sich der 46jährige Berliner Arbeitslose im Foyer der Technischen Universität (TU) um. »Ansonsten finde ich es nicht so interessant«, sagt er trocken beim Anblick der versammelten GewerkschaftsfunktionärInnen und der leicht ergrauten akademischen Linken.

Bretzinger ist nur zufällig ins Getümmel des Kongresses unter dem Titel »Es geht auch anders – Perspektiven für eine andere Politik« geraten. »Eigentlich war ich auf der Rentnerdemo am Brandenburger Tor, um Unterschriften für die Wiedereinführung des Sozialtickets zu sammeln«, sagt er. Aber die Rentner zeigten sich skeptisch und waren unwillig, ihre Namen herauszugeben, weswegen er noch zum Kongress gefahren sei. »Mit meiner Unterschriftenliste in der Hand musste ich wenigstens keinen Eintritt zahlen.«

An potenziellen UnterzeichnerInnen mangelt es nicht. Über 1 200 TeilnehmerInnen sind den Gewerkschaften und Attac gefolgt, um an diesem Wochenende »Alternativen zur neoliberalen Politik von Bundesregierung und Opposition vorzustellen und zu diskutieren«. Die Halle mit dem spröden Betoncharme der siebziger Jahre ist gut gefüllt. Überall stehen kleine Gruppen, die Leute palavern, tauschen sich aus. Immer wieder sieht man Prominente: den Vorsitzenden von Verdi, Frank Bsirske, die stellvertretende Vorsitzende des DGB, Ursula Engelen-Käfer, es ist ein Sehen und Gesehenwerden.

Dazwischen tummeln sich die üblichen politischen SektiererInnen, die immer auf solchen Veranstaltungen ihr Unwesen treiben und deren neuestes Projekt die Gründung einer Linkspartei ist, die, man ahnt es, natürlich alles besser machen wird, als »neuer politischer Arm« der hier präsenten sozialen Bewegung.

»Immer diese Vereinsmeierei!« Udo Schaphals, seit 30 Jahren Sozialarbeiter und eigens aus Bremen angereist, glaubt nicht, dass eine neue Partei die Rettung bringt. »Als wirklicher 68er, der nicht wie Joschka Fischer ist«, weiß Schaphals, dass Parteien nichts Gutes bringen. »Stundenlange ideologische Diskussionen habe ich genug geführt, das will ich nicht noch mal haben«, sagt er.

Vom Kongress ist Schaphals dennoch begeistert: »Hier treffen sich Jung und Alt, es gibt viele Ideen, auch für konkrete Aktionen, so dass es sich wieder lohnt, aktiv zu werden.« Diese Botschaft wolle er auch seinen daheim gebliebenen KollegInnen vom Bremer Sozialforum überbringen, sagt der 58jährige, der durch die Idee der Sozialforen aus seiner politischen Lethargie gerissen worden sei und seitdem »ein ganz anderes Ich-Gefühl« habe.

»Also ich hab hier noch kein anderes Ich-Gefühl entdeckt«, meint dagegen Isabella Pechlivanis. Die 18jährige Schülerin aus Marl im Ruhrgebiet, Mitglied der dortigen Gruppe von Attac, hat sich, völlig erschlagen vom Überangebot an Informationsveranstaltungen, in die Halle geflüchtet. In 14 Themenbereichen von A wie Arbeit bis V wie Vernetzung finden an diesem Samstag über hundert Workshops, Vorträge und Podiumsdiskussionen statt.

Trotz des mannigfaltigen Angebots ist das junge Attac-Mitglied enttäuscht: »Es wird immer das Gleiche gesagt, ein bisschen Umverteilung hier, ein bisschen Beschäftigungspolitik dort, nichts wirklich Neues.« Da es erst früher Nachmittag ist, will Pechlivanis aber noch nicht resignieren und statt der reinen Theorie in eine Veranstaltung gehen, die sich mit konkreten Perspektiven gegen die Privatisierung öffentlicher Güter wendet.

Immerhin etwa 70 BesucherInnen interessieren sich für den »Konfliktgegenstand Nummer eins der Zukunft«: die Verteilung des Wassers. Damit nicht alle von der Diskussion der PodiumsteilnehmerInnen erschlagen werden, gibt es zunächst einmal zwei Filme über Wasserprivatisierungen. »Wenn wir die Privatisierung des Wassers akzeptieren, akzeptieren wir die Vermarktung des Lebens«, erzählt Ricardo Petrella, Professor und Privatisierungskritiker, im ersten Film. »Wasserkriege könnten wahr werden, es sei denn, der Widerstand gegen die Privatisierung wächst.«

Widerstand, Perspektiven, andere Politik. Gebannt warten die ZuhörerInnen auf die anschließende Podiumsdiskussion zur Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe. Wirkliche Anleitungen für eine erfolgreiche Gegenwehr erhält man allerdings nicht. Ein SPD-Mitglied schlägt eine Rückverstaatlichung durch den Rückkauf der Berliner Wasserbetriebe mit neuen Krediten vor. Der Attac-Vertreter will immerhin ein partizipatives Kontrollmodell durch die Bevölkerung für deren kommunale Versorger entstehen sehen. Ein bisschen Stimmung kommt auf, als Gabi Schmidt, eine Gewerkschaftsfunktionärin aus Münster, erzählt, wie die Gewerkschaften mit einem vierwöchigen Streik und einem gleichzeitig stattfindenden Bürgerbegehren Privatisierungen in ihrer Stadt verhindern konnten. »Uns ist es gelungen, die Bevölkerung zu überzeugen, indem wir die Inhalte heruntergebrochen und vereinfacht haben«, erzählt Schmidt.

Mit der Forderung, dass sich die Gewerkschaften wieder gesellschaftlich engagieren müssen, rennt sie bei den anderen anwesenden GewerkschaftsfunktionärInnen der unteren und mittleren Ebene offene Türen ein. Groß muss der Unmut an der Basis sein. Das Entsetzen über die katastrophalen Folgen des Sozialabbaus und die Politik der »neoliberalen Einheitspartei Deutschlands«, wie die Parteien auf dem Kongress heißen, lässt sich von den GewerkschaftsführerInnen nicht mehr vertuschen. Daraus folgt aber nicht automatisch die Bejahung einer radikalen emanzipativen Politik, wie auf dem Eröffnungspodium der Veranstaltung am Freitagabend mehr als deutlich wurde.

Vielmehr richtete sich der Unmut zuallererst gegen die Agenda 2010 des »ambitionierten Cäsaren« Gerhard Schröder, auf »seinen Feldzug gegen die sozialen Sicherungssysteme«, wie es der katholische Sozialethiker Friedhelm Hengsbach in seiner Eröffnungsrede sagte. Es blieb der Italienerin Luciana Castellina von der Tageszeitung il manifesto vorbehalten, eine wirkliche »Veränderung der politischen Kultur« einzufordern. Bevor Jürgen Peters, der Vorsitzende der IG Metall, bewies, dass er die Italienerin offensichtlich nicht verstanden hatte, als er die Restaurierung des Sozialstaats beschwor.

Für Pedram Shahyar, den Vertreter von Attac auf dem Podium, stellt wegen des »Paternalismus« und der »Geschlechterungerechtigkeit« der alte Sozialstaat ebenfalls keine Lösung dar. Stattdessen müssten »die Widersprüche, die die Menschen beschäftigen«, in »stabilen, lokalen Räumen« wie den Sozialforen aufgegriffen werden. »Die Menschen«, damit meint Shayar die Betroffenen, die MigrantInnen, die Erwerbslosen und prekär Beschäftigten, müssten aber erst noch erreicht werden.

Tatsächlich war von »den VerliererInnen«, »dem unteren Drittel der Gesellschaft«, auf dem Kongress wenig zu sehen. Workshops, die sich mit »konkreten Aneignungspraxen« und Kämpfen um elementare Rechte wie den Aufenthalt von MigrantInnen drehten, waren in der Minderzahl und oft schlecht besucht. Bis zu einem »Wir können auch anders«, bis zu einem Generalstreik und der Infragestellung des gesamten kapitalistischen Gesellschaftssystems kann es jedenfalls noch ein wenig dauern.