Tour de Normandie

Die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum D-Day laufen in der Normandie auf Hochtouren. Zwischen Battlefield-Tours und Vergangenheitsaufarbeitung finden deutsche Reservisten auch ihren Platz. von thorsten fuchshuber und danièle weber, le havre

Messieurs les Français, rentrez les premiers! – Meine Herren Franzosen, gehen Sie als erste rein!‹, sagte der britische Befehlshaber Colonel Dawson ungefähr 100 Meter vor der Landungsstelle. Dies war für uns eine Ehre und ein Privileg zugleich.« Der 81jährige Léon Gautier steht im kleinen Musée du Commando N. 4 des normannischen Fährhafenstädtchens Ouistreham. Vor ihm ein Modell der dortigen Atlantikküste, wie sie am Morgen des 6. Juni 1944 ausgesehen hat. Man sieht die deutschen Stellungen und Bunkeranlagen in der Nähe des Strandes. Und man sieht die Landungsboote, die sich zwischen Panzersperren und Minen geschoben haben. In einem dieser Boote, genauer gesagt im ersten, das früh morgens um 7 Uhr an diesem Küstenabschnitt mit dem Codenamen »Sword Beach« auf Grund lief, befand sich Léon Gautier. Als Soldat des französischen »Kommandos Kieffer« nahm er an jener Militäraktion Teil, mit der die Zerschlagung des deutschen Terrorregimes über Europa endgültig eingeleitet wurde, an der Landung der Alliierten in der Normandie.

Als die Aktion »Overlord« begann, war Gautier bereits seit vier Jahren Soldat. In Großbritannien hatte er sich den Forces Françaises libres unter General Charles de Gaulle angeschlossen, mit denen er zunächst in Afrika, im Libanon und in Syrien gegen die Nazi-Armee kämpfte. 1943 kehrte er nach England zurück, wo er in eine Spezialeinheit um den französischen Colonel Philippe Kieffer eintrat. Von nun an trainierte er nur noch für einen Tag: J-Jour – Le jour le plus long.

Anfang Juni 1944 war es schließlich so weit. »Wir machten uns auf den Weg zur Insel Wight, die den Codenamen »Picadilly Circus« trug und um die herum sich die Armada der Alliierten versammelte«, blickt Gautier zurück. »Die Überfahrt dauerte die ganze Nacht. Wir Franzosen waren am äußersten Ostrand der Landungsboote, und unsere Mission war es, die Stellungen und den Kommandobunker in Ouistreham einzunehmen.« Viereinhalb Stunden später war die Küstenstadt unter alliierter Kontrolle, und zehn der insgesamt 177 Franzosen seiner Einheit waren tot. »Wie viele kamen sie in der Hoffnung, ihre Familien bald wieder zu sehen. Und dann haben sie Frankreich nur für einen kurzen Moment, den Augenblick ihres Todes, gesehen. Wissen Sie, das ist schwer zu verdauen, das schluckt man nicht einfach so runter …«

Dass sich der gebürtige Bretone ausgerechnet in Ouistreham niedergelassen hat, ist keine Nostalgie: »Meine Frau war es leid, zu den vielen Gedenkfeiern anzureisen, also zogen wir hierher.« Der 60. Jahrestag des D-Day bedeutet für Gautier vor allem eines: seine Freunde von damals wieder zu sehen.

Die Battlefield-Tours

Die Vorbereitungen für die großen Feierlichkeiten laufen auf Hochtouren. Seit Wochen finden in der Gegend unzählige Gedenkfeiern und Veranstaltungen statt. Der D-Day-Tourismus floriert in diesem Jahr wie noch nie. »Dazu haben auch die Spielberg-Filme beigetragen«, sagt Alain Chesnel, der bereits vor zehn Jahren die D-Day-Feierlichkeiten für die 29. Infanteriedivision der US-Streitkräfte organisierte.

Damals tat der Bauingenieur dies als Nebenjob, nun ist sein Hobby zum Beruf geworden. Seit einem Jahr bietet der 50jährige »guided Overlordtours« an, und die sind laut Prospekt sogar »von Veteranen empfohlen«. »Meine Leidenschaft ist auf der Seite der Amerikaner«, erklärt Chesnel, als er seine beiden Tagestourgäste Kate und Ken aus Washington State im Hotel Churchill in Bayeux abholt. »Ich weiß nicht, wieso«, ergänzt Chesnel, der sich trotz großer Begeisterung für die USA den typischen Accent français erhalten hat. Erste Station dieser Battlefield-Tour ist die Batterie von Longues sur Mer, dem einzigen deutschen Küstenstützpunkt, in dessen grasbewachsenen Bunkern auch heute noch die Kanonen zu besichtigen sind. Mehr als 1 500 Tonnen Bomben fielen allein auf dieses kleine Stück der Atlantikmauer, weiß Chesnel und deutet auf die unzähligen Krater, die heute zur Veranschaulichung fein säuberlich mit der Motorsense ausgemäht werden. Dem zwei Meter dicken Betonmantel der klobigen Bunker konnten weder die Geschosse aus der Luft noch die der Marine etwas anhaben. Chesnel steht am Klippenrand und späht aufs offene Meer. Von hier oben hat man den Überblick über den kilometerlangen Sandstrand, der die Codenamen »Utah«, »Omaha«, »Gold« oder »Sword« trägt. »An dieser Stelle blickt im Film ›The Longest Day‹ der deutsche Major Pluskat auf die alliierte Armada«, erzählt der Tourunternehmer. »Das ist aber historisch falsch. In Wirklichkeit befand sich Pluskat in einem Bordell in Caen«, fügt Chesnel hinzu und betont, dass dies keine Anekdote, sondern die Wahrheit sei.

Achtung, keep smiling!

Plötzlich springt ein ganzes Bataillon deutscher Bundeswehrsoldaten in der Kraterlandschaft umher. In voller Kampfmontur stehen die Soldaten schließlich in Reih und Glied vor dem imposantesten der vier Bunker und lassen sich, Kanonenrohr in der Mitte, ablichten. »Achtung, keep smiling«, so der Befehl des Uniformierten, der diese muntere Reisetruppe der etwas anderen Art leitet. »Wir sind Reservisten aus der Pfalz«, erklärt er pflichtbewusst den erstaunten Journalisten. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge habe den Ausflug zusammen mit der Bundeswehr organisiert, man wolle »militärhistorisch aufbereiten, wie die Landung stattfand«.

Doch offensichtlich geht es um etwas mehr. Denn auf die Frage, was das für ein Gefühl sei, nun als deutscher Soldat hier zu stehen, nennen die Reservisten spontan »vor allem die Erkenntnis, dass wir vor 20 Jahren nicht hierher konnten«. Nun sollen die Männer als »Multiplikatoren draußen für den Friedensdienst Propaganda machen«, so ihr Leiter. Die Uniform sei dabei notwendig, da »wir hier Soldaten sind, die eine Wehrübung machen«, sagt einer der Militärs und fügt zur vollständigen Aufklärung hinzu: »Wir sind ja auch mit dem Bundeswehrbus hier.« Die Franzosen, so die überzeugte Auskunft, hätten stets positiv auf ihre Anwesenheit und ihre Uniformen reagiert.

»Sehr bizarr« findet hingegen Chesnel den Anblick der uniformierten Deutschen und ist sich »nicht so sicher«, ob sich die Franzosen trauen, den deutschen Landsern ihre wahren Gefühle über deren Anwesenheit mitzuteilen. Auch Kate und Ken gucken ein wenig befremdet, als sie ihren Platz im Tourbus wieder einnehmen. Weiter geht’s zur »Omaha Beach«, zum »blutigsten Abschnitt« der Landung, wie Chesnel erklärt. Allein an dieser Stelle sind am D-Day 3 000 amerikanische Soldaten getötet worden. Auch Kens Onkel ging hier mit der 1. US-Infanteriedivision an Land. Seit Ken dies erfahren hat, lässt ihn das Thema D-Day nicht mehr los, erzählt er. Deshalb habe er diesen Ort unbedingt mit eigenen Augen sehen wollen. Er steht neben einem mehrere Meter hohen Obelisken, der den Opfern jener Division gewidmet ist, und blickt aufs Meer. Er versucht sich vorzustellen, durch welche Hölle sein Onkel damals gegangen sein muss.

Die wahren Soldaten

Der amerikanische Friedhof von Colleville macht ein weiteres Mal bestürzend deutlich, wie verlustreich der Kampf für die Alliierten war. Endlos ziehen sich die weißen Steinkreuze und Davidsterne über den grünen Rasen hin. Wer hier ein spezielles Grab finden will, ist ohne einen genauen Plan aus dem Besucherzentrum aufgeschmissen. Doch Chesnel weiß, wohin er will. Er führt Ken und Kate zu jener Stelle, an der Steven Spielberg die Schlusssequenz von »Saving Private Ryan« gedreht hat. Zuweilen verwischen eben Realität und Fiktion.

Die Anekdoten verschaffen die nötige Zeit, um sich selbst ein bisschen umzusehen. Gleich in der Nähe des Eingangs zum Friedhof befindet sich ein halbrunder Bau, parallel dazu wurden riesige Steinsäulen in den Boden eingelassen. An einer der Säulen lehnt ein etwa 80jähriger Mann. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, betrachtet er lange die an der Wand angebrachten Karten, die den Verlauf der Landung zeigen. Gerrit de Brabander ist zum ersten Mal hier. Während der Okkupation Hollands durch die Nazis musste er Zwangsarbeit leisten, beim Bunkerbau am dortigen Atlantikwall. Nun ist er in die Normandie gekommen, um zu sehen, »wo die Befreiung Europas durch die USA und die Briten ihren Anfang nahm«.

Tags darauf steht Brabander an einem der meistbesuchten ehemaligen Kriegsschauplätze: »Pegasus Bridge«, wie der Codename der Brücke bei Bénouville lautet, war ein strategisch wichtiger Punkt, der von britischen Fallschirmjägern bereits in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni eingenommen wurde, um einen schnellen Gegenangriff der deutschen Panzerdivisionen auf die Landungstruppen zu verhindern. Das kleine Café Gondrée direkt neben der Brücke wurde so zum ersten befreiten Haus Frankreichs.

Heute ist es ein Wallfahrtsort für Veteranen, Touristen und andere. Selbst die britische königliche Yacht legte hier schon an, wie im Innern des Cafés ausführlich dokumentiert ist. Nebst einem Portrait von Prinz Charles findet sich ein Dankesbrief an die Besitzerin Arlette Gondrée: »Yours sincerely, Charles.« Auch sonst gleicht der Raum eher einem Schrein als einer Gaststätte. Uniformen und Ausrüstungsgegenstände hängen neben Fotografien verschiedener Kampfeinheiten, persönlichen Briefen, Orden, Emblemen.

Auch hier wird Anschauungsunterricht für Militärs betrieben. »Das sind wahre Soldaten«, erklärt Steven White einem seiner Zöglinge und deutet auf ein Veteranengruppenbild. Draußen knipst der Ausbilder bei der Harrogate Army College Foundation, der Eliteschmiede der königlichen Armee, ein Erinnerungsfoto. Alljährlich kommt der 30jährige Brite, der selbst im zweiten Golfkrieg gekämpft hat, mit einer Gruppe College-Studenten hierher. »Zur Taktikschulung«, wie er sagt, vor allem um den Schülern »die Unterschiede zwischen der britischen und der amerikanischen Landung« zu zeigen.

Aktive Vergangenheitsbewältigung

Rund 180 000 Menschen besuchen jedes Jahr den deutschen Soldatenfriedhof La Cambe. Er ist, so steht es auf einer Informationstafel zwischen dem Eingangsportal und dem Besucherzentrum, seit 1948 »deutsch und zählt über 21 000 Gräber. Er sieht in seiner strengen Anordnung melancholisch aus; es ist die letzte Ruhestätte von Soldaten, von denen viele weder den Grund dieses Krieges noch den Kampf gewählt hatten.« Betreut wird er von der Kriegsgräberfürsorge, die auch die inhaltliche Begleitung übernimmt. Dazu gehören auch Projekte wie »Arbeiten für den Frieden«, an dem auch in diesem Frühjahr einige Schülerinnen aus Niedersachsen teilnehmen. Mit Eimern und Bürsten ausgerüstet, treten sie durch das Portal. Vor ihnen öffnet sich ein riesiges Feld, in das unzählige kreuzförmige Grabplatten eingelassen sind.

Die »Strenge«, von der die Infotafel schwärmt, wird ergänzt durch die in regelmäßigen Abständen gepflanzten deutschen Eichen. Nicht wenige der hier Begrabenen waren Angehörige der SS. Damit haben die Schülerinnen aus dem niedersächsischen Bückeburg kein Problem. »Nach dem Tod«, erklären sie, »sind alle gleich, und dann sollte man auch alles vergeben.« Das ist aktive Aufarbeitung der Vergangenheit, finden sie, denn »wenn man die Menschen unterschiedlich behandeln würde, dann würde man die Ideologie der Nazis nachempfinden.«

Ähnlich sieht das der Leiter des Friedhofs, Lucien Tisserand, der stets bemüht ist, »das Gleichgewicht« zwischen Tätern und Opfern zu halten. Der Elsässer spricht fließend Deutsch und scheint genau der Richtige für diesen Job zu sein. Letzten Endes seien alle Soldaten – ob Alliierte oder Deutsche – guten Glaubens gewesen, »das Richtige zu tun«. Tisserand will vermitteln, die »Ideen der einen den anderen mitteilen«. Bei den deutschen Besuchern höre er eher zu, die Franzosen hingegen kläre er auf: »Wir haben hier auf dem Friedhof eine große Anzahl junger Soldaten, die nicht aus Überzeugung in der SS waren, sondern einfach nur, weil sie groß und blond waren und blaue Augen hatten.«

»Wir sind ihre Befreier«

Zurück in Ouistreham. Auch hier wird bereits vor dem Gedenktag gefeiert. Heute sind Vertreter aus der belgischen und der deutschen Partnerstadt gekommen. Etwa 200 Meter vom Strand entfernt, auf einer kleinen Anhöhe, wurde eine steil emporragende Metallspitze in den Boden eingelassen, die einem Schiffsrumpf nachempfunden ist. Auf dem Platz um das Denkmal hat sich auch Léon Gautier eingefunden, heute trägt er das grüne Barett seines Bataillons. Ein kleiner Tratsch hier, ein paar Worte da, dann wird er von den Honoratioren zum Rednerpult gezerrt. Er muss ein Grußwort sprechen. Der Bürgermeister der fränkischen Stadt Lohr legt einen Kranz nieder und verspricht in seiner Ansprache, »an der Einigung von ganz Europa mitzuarbeiten«. Der multinationale Chor singt: »Freude, schöner Götterfunken.«

Doch Musik hat die Menschen hier nicht immer vereint. Peter Graner aus Lohr ist gewissermaßen ein Veteran der Städtepartnerschaft. »Vor zwei Jahren bin ich allerdings angeeckt«, erzählt er. Damals habe er auf der Ziehharmonika einen deutschen Marsch gespielt, was bei den Anwesenden gar nicht gut angekommen sei.

Dafür, dass Deutsche hier nicht immer gerne gesehen sind, hat er Verständnis. Allerdings sollten »wir darauf achten, dass die Deutschen an allen Punkten in die europäische Gemeinschaft zurückkehren«. Auch Léon Gautier hat kein Problem damit, dass Bundeskanzler Schröder erstmals zu den Gedenkveranstaltungen nach Arromanches eingeladen wurde. »Aus einem einfachen Grund: Man muss diesen Hass vergessen.« Die deutschen Veteranen will Gautier allerdings nicht hier sehen: »Das ist hier nicht ihr Platz. Ich müsste bei ihrem Anblick bestimmt darüber nachdenken, ob etwa derjenige, den ich dabei beobachtet habe, wie er einen Gefangenen misshandelt, unter den Anwesenden ist.« Léon Gautier mustert die Besuchergruppe. »Die Belgier, die Franzosen und die Deutschen, alle zusammen«, sagt er nachdenklich. Und nach einer kleinen Pause: »Wir sind ihre Befreier, das darf man nicht vergessen.« Denkt er, dass die Deutschen das vergessen haben? »Die Jungen schon.«