Zum Beispiel Oradour

Im europäischen Gedenken haben die Opfer der deutschen Verbrechen nichts verloren. Von Tjark Kunstreich

Mit den Feiern zum 60. Jahrestag der Landung in der Normandie beginnt ein bunter Reigen von Gedenktagen, der bis zum 8. Mai 2005 andauern wird. Die Tage der Befreiung von Orten und KZ und die Tage, an denen Deutsche zu Opfern wurden, werden gleichberechtigt nebeneinander stehen in einem Europa, in dem, wie Gerhard Schröder es im Spiegel treffend sagte, nicht nur der Zweite Weltkrieg, sondern auch die »Nachkriegsordnung« überwunden wurde. Über die erstmalige Einladung eines deutschen Regierungschefs zu den Feierlichkeiten in der Normandie sagte Schröder: »Der Inhalt dieser Einladung heißt doch: Der Zweite Weltkrieg ist endgültig vorüber.«

Zu verdanken haben die Deutschen die Einladung dem französischen Präsidenten Jacques Chirac, jedoch wäre es verfehlt, so zu tun, als sei dies etwas Neues, gar ein Widerspruch zur bisherigen Politik Frankreichs gegenüber Deutschland, im Gegenteil. Sie war und ist geprägt vom uneingestandenen Versagen der Linken vor dem deutschen Einmarsch 1940, als man auf Appeasement statt auf Aufrüstung setzte und dem deutschen Angriff nicht standhalten konnte, und von der Kollaboration weiter Teile der bürgerlichen Rechten mit den deutschen Besatzern im Vichy-Regime, das weit mehr war als eine Marionettenregierung.

Über beiden Tatbeständen lag ein jahrzehntelanges Schweigen, das Legendenbildung ermöglichte: über die Einheit der Grande Nation im Widerstand gegen die Okkupanten, die es ebenso wenig je gab wie den »sauberen Krieg« der Wehrmacht in Frankreich – Legenden, an denen fast alle politischen Fraktionen der Nachkriegszeit ein Interesse hatten. Wie in Deutschland galten die Überlebenden schon früh als »Störenfriede der Erinnerung« (Eike Geisel), wenn sie es wagten, die Beteiligung französischer Beamter an der Deportation und Ermordung der französischen Juden anzuklagen; wenn sie auf die Verbrechen von Wehrmacht und SS hinwiesen, denen Tausende zum Opfer fielen und an denen in nicht geringem Ausmaß auch französische Staatsbürger beteiligt waren.

Auch die Tatsache, dass im bewaffneten Widerstand mehrheitlich Kinder von Einwanderern und Flüchtlinge kämpften, wurde unter den Teppich gekehrt. Die Kommunistische Partei Frankreichs forderte nach dem Krieg ehemalige Kombattanten auf, ihre jüdisch-polnischen Namen »einzubürgern«, d.h. französische Namen anzunehmen.

Zu Beginn der sechziger Jahre war die Schonzeit in den deutsch-französischen Beziehungen bereits zu Ende. Aber der Grund für die vorherige Distanz lag nicht etwa in einer Ablehnung Deutschlands von französischer Seite, sondern in der Notwendigkeit, die Nation zusammenzuhalten, die an der Frage des Umgangs mit den Kriegsverbrechern gespalten war. In dieser Zeit beschäftigte sich das fortschrittliche Frankreich mit dem Algerienkrieg, die Freilassung der letzten noch in Frankreich inhaftierten Deutschen ging reibungslos über die Bühne. Das Ziel Frankreichs unter Charles de Gaulle war schon damals ein europäischer Machtblock gegen die USA, und der war und ist ohne die Deutschen nicht zu verwirklichen. Die Deutschen ihrerseits konnten sich noch nicht von den USA distanzieren, verfolgten jedoch ihre Europa-Option im gleichen Sinne.

Mit der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrages durch de Gaulle und Konrad Adenauer im Jahr 1963 beginnt der Prozess, der nun mit der Teilnahme Schröders an den Feierlichkeiten in der Normandie seinen symbolischen Abschluss findet. Mit dieser Zeremonie wird nicht nur die Nachkriegszeit einmal mehr endgültig verabschiedet, vielmehr wird jene Tradition bekräftigt, die von Appeasement und Kollaboration zum heutigen deutsch-französisch dominierten Europa führt.

Etwas abseits vom Trubel in der Normandie wird in dieser Woche im südöstlich gelegenen Limousin an das Wüten der Waffen-SS-Division »Das Reich« erinnert, deren blutige Spur sich von Toulouse im Süden bis in die Normandie zieht. In Oradour-sur-Glane gedenkt man der mindestens 642 am 10. Juni 1944 von den Deutschen Ermordeten und des zerstörten Dorfes, das heute eine Gedenkstätte ist.

Oradour wurde in Frankreich beinahe ebenso verdrängt wie in Deutschland, was nicht nur dazu beitrug, dass die meisten Mörder einer Bestrafung entgingen; darüber hinaus orientiert sich die deutsche Geschichtsschreibung bis heute an der SS-Version des Geschehens in Oradour, wonach es sich um eine Vergeltungsmaßnahme gehandelt habe. Das Massaker zeichnet sich jedoch durch seine vollendete Sinnlosigkeit aus. Es war weder Rache noch Vergeltung, es war die barbarische Tat von im Angesicht der drohenden Niederlage vollends enthemmten SS-Männern.

Die deutschen Verbrechen werden im kommenden Jahr der 60. Jahrestage nicht im Vordergrund stehen, sondern die Daten der Befreiung, und die Deutschen feiern mit. Schröder wird am 27. Januar 2005 an der Gedenkfeier zur Befreiung des KZ Auschwitz teilnehmen. Der 8. Mai 2005, der Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation, soll hierzulande zum ersten Mal auch von staatsoffizieller Seite als »Tag der Befreiung« begangen werden, so jedenfalls sieht es ein Antrag der Regierungsfraktionen im Bundestag vor.

Es bleibt nur die Frage, welche Befreiung gemeint ist, die von der Nazi-Barbarei vor 60 Jahren oder die von amerikanischer Bevormundung im vergangenen Jahr. »Beim D-Day 2004 steht von EU-Seite die Beerdigung des internationalen Antifaschismus und dessen Identifizierung als Imperialismus auf dem Programm«, kommentierte Karl Nele in Bahamas. »›Friedenserhaltung‹ à la München steht in Europa ja nicht erst seit der Bomben- und Wahlkatastrophe von Madrid hoch im Kurs.«

Da passt es nicht in den Rahmen, von jenen Verbrechen zu sprechen, deren Beendigung erst durch die Eröffnung der Westfront möglich wurde, und vor allem von dem hohen Preis, den Appeasement und Kollaboration gefordert haben. Deutsche Opfer hingegen werden vor allem als solche der »anglo-amerikanischen« Strategie vorkommen und so in einem Atemzug genannt werden mit anderen Opfern des Imperialismus. Ein weiterer Sieg des linken Revisionismus der Berliner Republik.