Let’s get lost, Genossen

Ohne Rücksicht auf Verluste wollen die Sozialdemokraten an der Agenda 2010 festhalten. Innenansichten der SPD auf dem Weg zur Splitterpartei von philipp steglich

Steht Deutschland kurz vor einer Revolution? Wegen der Einführung der Praxisgebühr von zehn Euro pro Quartal habe sich in Deutschland »eine fast vorrevolutionäre Situation« entwickelt, sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder am Freitag auf der Jahresversamlung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft in Leipzig. Der zeitliche Abstand zwischen den Belastungen durch die Reformen und deren positiven Ergebnissen mache die Reformpolitik in Deutschland »ungeheuer schwierig«. Der Kanzler kritisierte die »Unbeweglichkeit« der Deutschen. Zwar sei die Bereitschaft zur Veränderung vorhanden, sie lasse aber nach, wenn man selbst davon betroffen sei.

In der SPD scheint jedoch umstritten zu sein, ob das Land sich bereits in einer vorrevolutionären Phase befindet oder diese erst einsetzt, wenn die SPD sich wieder in der Opposition befindet. Der ehemalige Erste Bürgermeister von Hamburg, Klaus von Dohnanyi (SPD), warnte nach Angaben der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vor »Zuständen wie in Italien«, sollte die SPD nicht mehr regieren. »Die SPD, besonders die Linke, und die Gewerkschaften würden ständig protestieren«, sagte er. Er empfahl Schröder, die starke Position, die das Grundgesetz ihm verleihe, diese »Art präsidialer Macht«, für die Reformen zu nutzen und diese unbeirrt weiterzuführen.

Der Hintergrund für Durchhalteparolen, Wählerschelte und Aufforderungen zu autoritärem Politikstil dieser Art bilden die desaströsen Ergebnisse der SPD bei der Europawahl. Am 13. Juni erhielt die SPD mit 21,5 Prozent ihr bisher schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl. In Westdeutschland wurde sie in einigen Wahlbezirken, wie etwa in München, deutlich von den Grünen überholt und kam nur auf den dritten Platz, während sie in Ostdeutschland der PDS den zweiten Platz überlassen musste.

Aktuelle Umfragen legen nahe, dass dieses Ergebnis nicht einmalig bleiben wird, sondern dass die SPD sich vielmehr auf diesem historischen Tief der Nachkriegszeit einpendelt. Da ist es nur zu verständlich, wenn unter den sozialdemokratischen Mandatsträgern die Unruhe wächst. So sagte der Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee (SPD) der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: »Die CDU regiert, die PDS opponiert, und die SPD ist im Osten marginalisiert.« Auch könne sich die SPD in weiten Teilen der neuen Länder kaum länger eine Volkspartei nennen.

Im Herbst werden im Saarland, in Sachsen und in Brandenburg neue Landtage gewählt. Wichtig wird auch das Ergebnis der SPD bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen sein. Wenn sie in ihren ehemaligen Hochburgen noch einmal verliert, und es sieht danach aus, wird es große Probleme für die Führung der Partei und die Bundesregierung geben.

Noch glaubt die SPD, sie könne dies abwenden. Ihr Vorsitzender Franz Müntefering ist überzeugt: »Die SPD wird gebraucht.« Eine Kehrtwende in der Reformpolitik werde es nicht geben. Es sollen jedoch »Akzentuierungen« vorgenommen werden, die deutlich machen, dass diese Politik »für alle gut ist«. Man rätselt, wie das funktionieren soll.

Müntefering scheiterte bereits bei seinem ersten Versuch, der SPD wieder ein sozialeres, arbeiterfreundlicheres Image zu verschaffen. Die eigenen Genossen, die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten, verhinderten die Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe. Welcher frühere Wähler der SPD soll glauben, dass die Partei eine höhere Besteuerung von Unternehmensgewinnen durchsetzt? Auch die neu erhobene Forderung nach der Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen, welche angesichts des Lohndumpings in Ostdeutschland dringend notwendig wären, hat wenig Chancen, erfüllt zu werden. Eine im Kern unsoziale Reformpolitik, die konsequent die Schwächsten in der Gesellschaft am härtesten trifft, kann nicht beliebig sozial »akzentuiert« werden.

Auch eine Verschiebung der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, von Hartz IV, kann schwerlich als »soziale Akzentuierung« gedeutet werden, da das Ungemach ja nur ein wenig später einträfe. Dabei fordern sogar konservative Politiker, wie der Vorsitzende der Sozialausschüsse der CDU, Hermann-Josef Arentz, die Verschiebung des Gesetzes. »Es darf nicht sein, dass Hartz IV für die Arbeitslosen nur negative Folgen hat«, kritisierte Arentz in der Berliner Zeitung und forderte eine bessere »Betreuung« der Langzeitarbeitslosen.

Aber trotz aller Kritik und der schlechten Umfrageergebnisse will Schröder an der Agenda 2010 »nicht mehr rumschnippeln«, wie er dem Spiegel sagte. Der frühere Bundesgeschäftsführer der Partei, Peter Glotz, forderte Schröder sogar auf, um jeden Preis an der Agenda festzuhalten. Wenn dies nicht geschehe, »feuerten Wirtschaft und Medien eine Breitseite nach der anderen gegen ihn ab«, sagte er der Chemnitzer Freien Presse. Glotz zeigt, wer die Reformpolitik, die für alle sein soll, eigentlich will.

Wer sie nicht will, ist auch klar: die Gewerkschaften. »Die Gewerkschaften müssen weg von ihren abstrakten Betrachtungen und sich den konkreten Fragen in den Betrieben stellen«, attackierte Schröder im Spiegel die ehemaligen Bündnispartner. Der Vorsitzende von Verdi, Frank Bsirske, bilanziert hingegen im Gespräch mit der Welt am Sonntag: »Gemessen an seinem Anspruch, Beschäftigung zu schaffen, die Arbeitslosigkeit zu senken und die Konjunktur in Schwung zu bringen, ist Gerhard Schröder bisher gescheitert. Gemessen an dem Ziel, die eigene Wählerschaft zu überzeugen und darüber hinaus Zustimung zu gewinnen, ebenfalls.« Die Gewerkschaften wollten ein »Verarmungsprogramm für Arbeitslose« nicht hinnehmen.

Aber daran, dass eine Debatte über die Einführung der 40-Stunden-Woche entstand, sind die Gewerkschaften nicht ganz unschuldig. In der vorigen Woche stimmte die IG-Metall einer unbezahlten Arbeitszeitverlängerung bei Siemens zu, sonst, so hatte der Konzern gedroht, würden die Arbeitsplätze nach Osteuropa verlagert. Wenn aber selbst bei westdeutschen Traditionskonzernen, die gute Profite machen, der Tarifvertrag nicht durchzusetzen ist, geht es anderswo noch schlechter.

Enttäuschte Gewerkschafter und Mitglieder der SPD treiben derweil weiter das Projekt der Gründung einer neuen Partei voran. Die Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit und die Initiative Wahlalternative wollen sich am 3. Juli in Berlin zu einem gemeinsamen Verein zusammenschließen, zur Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest zufolge können sich 38 Prozent der Bundesbürger vorstellen, einer neuen gewerkschaftsnahen Linkspartei ihre Stimme zu geben.

Vier der Initiatoren der Initiative wurden kürzlich aus der SPD ausgeschlossen. Alle vier waren seit mehreren Jahrzehnten Mitglieder der Partei und sind Funktionäre der bayerischen IG Metall. Der bayerische DGB-Vorsitzende Fritz Schösser bedauerte den Ausschluss der Kollegen, bezweifelte jedoch gleichzeitig die Chancen einer neuen Linkspartei. Er sagte in der vorigen Woche: »Bis diese Runde es schafft, ein Parteiprogramm zu entwerfen, wird die soziale Kälte übers Land hinweggezogen sein.« Damit dürfte er Recht behalten.

Auch Schösser, der für die SPD im Bundestag sitzt, ist von seiner Partei enttäuscht. Er will bei der nächsten Wahl nicht mehr kandidieren. Aber so viele Kandidaten braucht die SPD in Zukunft ja nicht mehr.