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Ungewöhnliche Worte sind derzeit in den Räumen der Redaktion zu hören. »Ich setze auf Deutschland«, heißt es da zum Beispiel. Oder auch: »Modern ist, wenn man gewinnt.«

Wenn es um Fußball oder Geld geht, kann der politischen Korrektheit keine Priorität eingeräumt werden. Und wenn es gar um beides geht, fallen die letzten Hemmungen. Das Wettfieber hat die Redaktion erfasst. Die Leistungsfähigkeit der Nationalmannschaften wird erörtert, doch auch die Quoten wollen bedacht sein. Auf Favoriten zu setzen, lohnt sich nämlich nicht.

Alles begann in Israel. Vor dem Spiel Deutschland gegen Holland wurden Einsätze eingesammelt. Nach dem Spiel wären die Fußballexperten fast zur Klagemauer gepilgert, denn gewonnen hat den Jackpot ein Redakteur, der vor der Wette nicht einmal wusste, wer gegen wen spielt.

Schnell wurden sich nach dieser bitteren Erfahrung alle darüber einig, dass die Umverteilung unter finanzschwachen Redaktionsmitgliedern keine Perspektive für den Erwerb schnellen Reichtums bietet. Da muss man sich schon an die Profis vom Wettbüro wenden. Die Europameisterschaft schien eine gute Gelegenheit zu sein, Unkenntnis in klingende Münze oder auch raschelnde Scheine umzuwandeln.

Auf zukünftigen Müßiggang hoffende Redakteure behaupten, jede Wette sei ein erfolgreicher Schlag gegen puritanische Arbeitsethik und fundamentalistischen Tugendterror. Denn das Glücksspiel ist der emanzipatorischste Sektor der kapitalistischen Wirtschaft. Es ist ideologiekritisch, denn es zwingt zur rationalen Abwägung der Chancen, und es bringt den Wetter an die Seite der Entrechteten, denn Favoriten haben schlechte Quoten. Soziale Herkunft, Staatsbürgerschaft und Gender sind unbedeutend, im Wettbüro sind alle gleich. Und wo sonst ist das kapitalistische Glücksversprechen noch so aktuell?

Die Gegenthese, dass am Ende doch immer die Bank gewinnt, wird als verkürzte Kapitalismuskritik zurückgewiesen. Schließlich muss das Spiel auch nach dem Ende der Europameisterschaft weitergehen. Kann John Kerry es gegen George W. Bush schaffen? Die Quote steht vier zu fünf.