Dokutainment sells

Die Republikaner zittern vor den Auswirkungen von »Fahrenheit 9/11«. Demagogisch, aber notwendig sei der Film, schreiben die meisten Kritiker. von max böhnel, new york

Wenn »repräsentative Umfragen« tatsächlich gesellschaftliche Trends wiedergeben, dann sind die Strategen der Republikaner einen Monat nach der US-Premiere von »Fahrenheit 9/11« zu Recht nervös geworden. Einer »Gallup«-Umfrage zufolge hat mit 56 Prozent die Mehrzahl der US-amerikanischen Erwachsenen – und damit der wahlberechtigten Bevölkerung – den Film im Kino gesehen beziehungsweise die feste Absicht, ihn als Video oder DVD zu erwerben.

Der Streifen habe inzwischen den amerikanischen Mainstream erreicht, sorgte sich der Republikaner-Berater Scott Reed kürzlich einer Agenturmeldung zufolge. Bislang sei seine politische Wirkung auf Wählerschichten aus den Lagern der Republikaner und der Unabhängigen zwar noch nicht auszumachen, doch wenn er »nur drei oder vier Prozent« vom Kreuzchenmachen bei Bush abhalte, dann würde das derzeitige »politische Kopfweh«, das die Skandale und Enthüllungen – noch verstärkt durch die emotionalen Effekte des Films – der »Grand Old Party« bereiten, in den Machtverlust münden.

Quantitativ, so viel stand bereits nach zwei Wochen Laufzeit fest, ist »Fahrenheit 9/11« der mit Abstand erfolgreichste Dokumentarfilm, der je in den USA gezeigt wurde. Vergangene Woche stand er auf Platz fünf der box charts, und am Wochenende versprach er, die magische Grenze von 100 Millionen Dollar Erlös aus verkauften Kinokarten zu überschreiten. Der bis dahin erfolgreichste Kassenknüller aus dem nicht eindeutig eingrenzbaren Doku-Genre war »Bowling for Columbine«, ebenfalls von Moore.

Den Republikanern ist klar, dass »Fahrenheit 9/11« auch von ihrer eigenen Klientel besucht wird, und zwar nicht deshalb, weil er Unterhaltung, sondern weil er »Einblicke« verspricht. Zu ihrem Erschrecken aber ermittelte »Gallup« in der Umfrage vom 8. bis 11. Juli, dass 38 Prozent der registrierten Republikaner den Film anschauen wollten. Die US-amerikanische Gesamtbevölkerung stehe ihm in ihrer Mehrheit kritisch gegenüber, hieß es weiter, doch wer ihn gesehen habe, befinde ihn fast immer für gut.

Die Gründe für das überraschend große Interesse an dem Film sind nicht schwer zu erraten. So hatte die mitglieder- wie finanzstarke und nicht nur lose mit den Demokraten verbundene Wählerorganisation moveon.org ihre Basis zum Filmbesuch am Premierenwochenende aufgerufen und am Montagabend darauf überall in den USA zur cineastischen »Nachbereitung« bei so genannten house parties aufgerufen. Der Appell wirkte: Tausende von Moore-Fans inklusive etlicher Prominenter strömten in die Kinos, gefolgt von Fernsehkameras, und montags war denn auch vor Zehntausenden, die sich in Hinterhöfen und Wohnzimmern vor Online-Bildschirmen versammelten, Michael Moore höchstpersönlich live dazugeschaltet. Er bedankte sich, man beklatschte sich gegenseitig, und bei dieser Gelegenheit sagte Moore auch klipp und klar, was er von John Kerry halte. Der Mann sei »die große Hoffnung«. Kerry würde »niemals einen Krieg wie den George Bushs gegen den Irak führen«. Tausende der schätzungsweise 35 000 house party-Gäste erklärten sich bei Chips und Bier bereit, kurz vor den Wahlen Flugblätter zu verteilen. Die zehn Millionen Dollar, die Moore zuvor in die PR gesteckt hatte, zahlten sich in Gratiswerbung aus.

Nachdem sich inhaltliche Details herumgesprochen hatten – der Film enthält etwa erstmals Aufnahmen von verletzten GIs im Irak oder Stimmen von Soldatenmüttern und -vätern –, erwachte offenbar auch das Interesse in den Republikanerhochburgen und an Orten in der Nähe von Armeestützpunkten im Landesinneren. Zu verstehen ist der Andrang vor dem Hintergrund, dass die amerikanischen Medien – und damit sind wegen der überwältigenden Zuschauerzahl die TV Networks gemeint – bislang unfähig waren, das erwachende Bedürfnis von »Joe Sixpack« nach den Hintergründen von »9/11« und »Irakkrieg« zu stillen. Soziologen weisen darauf hin, dass »Fahrenheit 9/11« an manchen Stellen die Grenze zum »Dokutainment« überschreitet, da der Film auch Unterhaltung biete und deshalb gut ankomme. Wer übersättigt ist mit Reality TV und langweiligen Polizei-Dokumentationsvideos, geht wieder mehr ins Kino. Bei Filmen wie »Bowling for Columbine« oder »Super Size Me« ist der Thrill einfach größer und »authentischer«.

Die Reaktionen in den US-amerikanischen Medien lassen sich in ihrer Mehrheit als merkwürdig ambivalent bezeichnen. Nachdem sich herausstellte, dass die zahlreichen professionellen fact checker nichts juristisch Anfechtbares in dem Film finden würden, strafte die konservative und neokonservative Presse ihn bislang eher mit Missachtung. Demgegenüber liefern die meist linksliberalen, auf jeden Fall aber Bush-feindlichen Vertreter der Kulturindustrie oft in sich widersprüchliche Kritiken ab. Vielleicht gilt bei ihnen die Devise, einen in Cannes ausgezeichneten Filmemacher könne und dürfe man nicht zerreißen, vielleicht will man sich aber auch nicht direkt als Demokrat outen. Oft fallen in ein und demselben Artikel widersprüchliche Urteile: »Rundum demagogisch«, aber »moralisch notwendig«, urteilte Todd Gitlin, ehemaliger Vorsitzender der Students for a Democratic Society; »einiges ist wahrscheinlich unwahr«, trotzdem sei der Film eine »öffentliche Dienstleistung«, schrieb Paul Krugman, Kommentator der New York Times; »er überschreitet dauernd die Grenze zwischen Dokumentarfilm und Demagogie«, Moores Instinkte seien aber »schärfer als je zuvor«, meinte A.O. Scott, Filmkritiker der New York Times.

Einen der wenigen Lichtblicke in der Aufarbeitung des Films bot hingegen der in Austin, Texas arbeitende Professor für Journalismus Robert Jensen. Das stupid white movie sei ein »schlechter Film, aber nicht aus den Gründen, für die er in der herrschenden Kultur angegriffen wird«, schrieb er in dem linken Szeneblatt Counterpunch. Gut seien zwar Darstellungen wie die der Ausschaltung afroamerikanischer Wählerstimmen in Florida im Präsidentschaftswahlkampf 2001 und die verhinderte Aufklärung darüber in Washington, der Film biete Einblicke in die Rekrutierungspraxis der Militärs, in die amtliche Angstmacherei und zeige einige Auswirkungen von Krieg auf seine Opfer und seine Soldaten. Doch alles in allem ziele Moore auf ein konservatives Kinopublikum ab und biedere sich bei diesem an. So sei »Fahrenheit 9/11« nicht immer frei von Rassismus, wie etwa bei der Darstellung der »Koalition der Willigen«, zu deren Denunziation Tierbilder herhalten müssen. Die Opfer von Krieg und innerer Repression seien bei Moore fast immer nur Weiße, wie die Gruppe Peace Fresno, und überhaupt: Die Verurteilung der Verhältnisse in den USA an die »persönliche Politik der Bush-Dynastie« und ihre »Verbindung zu Saudi-Arabien« zu knüpfen, beschönige nicht nur die Ära Clinton, sondern verstelle auch den Blick auf die Außen- und Militärpolitik der USA seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Bush schlagen und dann zurück zur Normalität, darin sei kein aufklärerischer Impuls zu entdecken, schließt Jensen. »Fahrenheit 9/11« sei »ein konservativer Film, der am Ende die zentrale Lüge der USA übernimmt«: dass es den US-Militärs um Freiheit gehe und dass »die angeblich so glorreiche Tradition der Armee durch den Irakkrieg gebrochen worden« sei.