Das Volk befragen

Die Bürgerinnen und Bürger müssen an der Demokratie beteiligt werden und die europäische Verfassung mitgestalten. von katina schubert

Es ist noch gar nicht so lange her, nicht einmal sechs Jahre, dass SPD und Grüne eine Bundestagswahl unter anderem deswegen gewonnen haben, weil sie der Bevölkerung mehr Mitsprache durch mehr direkte Demokratie versprachen. Eingelöst hat Rotgrün dieses Versprechen bis heute nicht. Und nicht nur das: Sie haben auch gar nicht versucht, die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag zur Änderung des Grundgesetzes und damit zur Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene zu erlangen.

Dabei wird die Notwendigkeit, die Bürgerinnen und Bürger Politik und Gesellschaft gestalten zu lassen, immer größer. In der Bundesrepublik koppelt sich wachsender Protest mit zunehmendem Vertrauensverlust in politische Institutionen, insbesondere in Parteien. Und – was offenbar neu ist – mangelndes Vertrauen und Desinteresse sind zunehmend in kalte Verachtung umgeschlagen. Das ist ein Problem, nicht nur für die Bundesregierung und die konservative Opposition, auch für die PDS als linke Opposition im Bund und als politische Partei. Vier Fünftel der Bevölkerung wünschen mehr politische Beteiligung und damit mehr Demokratie. Diesem gesellschaftlichen Druck können sich auf Dauer auch Rotgrün und CDU/CSU nicht entziehen, wollen sie nicht die Legitimität der parlamentarischen Demokratie demontieren.

Volksabstimmungen sind nicht per se fortschrittlich. Erfahrungen auf kommunaler und Landesebene sowie in anderen Staaten zeigen, dass auch Rechte und wirtschaftsnahe Lobbygruppen sich der Instrumente direkter Demokratie zu bedienen wissen. Das ist aber kein Argument gegen die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Politik und gesellschaftlicher Gestaltung, sondern Hinweis darauf, dass wir weg von der Verlautbarungspolitik hin zu breiten gesellschaftlichen Debatten kommen müssen. Wer gesellschaftliche Veränderungen hin zu mehr Demokratie, ziviler Konfliktlösung und sozialer Gerechtigkeit erreichen will, braucht Mehrheiten – in der Bevölkerung und in den Parlamenten.

Eine Verfassung ist eine wesentliche Grundlage, die das Zusammenleben in einer Gesellschaft rechtlich regelt. Die EU-Verfassung liefert die rechtliche Grundlage für das Zusammenleben von 25 Gesellschaften. Die Regelungen greifen mittel- und unmittelbar in das Leben der Bürgerinnen und Bürger ein. Ob 25 Bevölkerungen auf dieser Grundlage miteinander leben wollen, müssen sie mit entscheiden können, schon um die politische Legitimität und Akzeptanz einer Verfassung zu erhöhen. Es war ein Kardinalfehler der deutschen Vereinigung, die Bevölkerungen beider deutscher Staaten aus dem politischen Prozess auszusperren. Technokratie tötet Politik und damit auch die gesellschaftliche Akzeptanz von Politik.

Die Weigerung von Rotgrün, eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung zuzulassen, ist eindeutig interessengeleitet. Die Bundesregierung fürchtet, die Bevölkerung der Bundesrepublik könnte sich gegen die Verfassung aussprechen. Direkte Demokratie gibt es jedoch weder nach Kassen- noch nach Themenlage. Wenn die Bundesregierung die Bevölkerung für die Verfassung gewinnen will, muss sie dafür werben, und zwar mit Argumenten.

Die PDS fürchten eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung nicht. Im Gegenteil: Wir setzen uns gemeinsam mit den anderen Parteien der Europäischen Linken für Volksabstimmungen in allen EU-Staaten ein und damit für breite gesellschaftliche Debatten. Dabei werden wir uns gegen diese Verfassung aussprechen. Wir fordern die Abstimmungen jedoch nicht nur, um »Nein« sagen zu können, wir fordern sie, um gesellschaftliche Debatten über diese Verfassung und alternative Wege zu einem offenen, demokratischen, friedlichen und sozialen Europa führen zu können. Eine Verfassung ist nichts Statisches, sie muss sich mit gesellschaftlichen Veränderungen fortentwickeln – insofern ist auch diese EU-Verfassung veränderbar. Die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur Rüstung und die Festschreibung des neoliberalen Wettbewerbsmodells begründen unser »Nein« zur Verfassung. Doch wir sehen auch die Fortschritte, die unter anderem die PDS im Verhandlungsprozess durchgesetzt hat, z. B. bei der Verankerung sozialer Rechte, bei der Festschreibung der Grundrechte und der Geschlechtergleichstellung. Auch das zeigt: Es ist noch Bewegung möglich hin zu einer guten Verfassung.

Katina Schubert ist Mitglied des Bundesvorstands der PDS und des Vorstands der Partei der Europäischen Linken