Dem Volk misstrauen

Ein Referendum über die europäische Verfassung würde nur den Supra-Nationalismus der EU und die angebliche Einheit von Staat und Volk befördern. von ilka schröder

Wenn Völker an die Urnen gerufen werden, dann steht für die Mitglieder dieser staatlich gesetzten Zwangskollektive Entscheidendes zur Wahl: Sie sollen über die Ausgestaltung ihrer Herrschaftsform befinden, über die Geschäftsordnung der staatlichen Gewalt, oder sie sollen nachvollziehen, was ihre Staatsführung an größeren Projekten vorhat, wie etwa beim Euro. Gefragt wird nach der Zustimmung oder Ablehnung herrschaftlich gesetzter Alternativen. Kommunismus, Fünf-Gänge-Menüs für alle oder auch nur ein besseres Fernsehprogramm stehen nicht auf den staatlichen Fragezetteln. Zwecklos ist der ganze Zirkus aber nicht, weil er die Einheit von Staat und Volk bestätigt, wiederherstellt oder repariert. Das Volk betätigt sich als Souverän und ermächtigt durch seine Entscheidung die politische Gewalt zum Handeln. Dabei kommt es aber hin und wieder zu Unfällen, weil der Nationalismus von oben und der Nationalismus von unten nicht immer deckungsgleich sind. Und hinterher müssen Schweizer und Norweger weiterhin auf die Segnungen der EU-Mitgliedschaft verzichten.

Nun haben sich die versammelten europäischen Obrigkeiten vorgenommen, trotz aller Differenzen irgendwie ihr europäisches Projekt voranzubringen. Weil alle damit ihren nationalen Nutzen mehren wollen, sind sie sich weder über den Weg noch über die Entscheidungsprozesse noch über das Ziel ganz einig. Ihren jetzigen und zukünftigen Konflikten wollen sie eine institutionalisierte Verlaufsform durch eine Verfassung geben, die das Gewusel von »konsolidierten Verträgen«, Abkommen und sonstigen Abmachungen ersetzen. Unzufrieden sind die europäischen Führungsspitzen auch damit, dass ihre Bürger allerhand Unzufriedenheit mit der nationalen Politik auf die EU ausweiten oder sogar auf »Europa« projizieren, und darum bei allem Antiamerikanismus und Antizionismus irgendwie ganz schön EU-kritisch sind. Dieser störende Nationalismus – den die Herrschaften hin und wieder anfeuern, wenn ihre ausländischen Kollegen nicht so wollen, wie sie sollen – soll jetzt mit einer Volksabstimmung in den EU-Supra-Nationalismus integriert werden. Die Völker Europas sollen darüber abstimmen, wie ihre Regierungen in Zukunft ihre Streitigkeiten über Krieg, Geld und Macht auf dem gemeinsamen Weg zur Weltmacht austragen.

Oder auch nicht: Manche Obrigkeiten sind skeptisch, ob ihr Staatsmaterial eigentlich den nötigen politischen Durchblick hat, über nationale Interessen kompetent zu entscheiden. Gerade die Deutschen werden von ihrer Regierung – fraglos zu Recht – als zu bescheuert und ressentimentgeladen eingeschätzt, um zu erkennen, dass Deutschland der große Gewinner der EU ist. Andere Länder sind da gelassener; und in Großbritannien will das politische Personal sogar das Volk entscheiden lassen, ob das Vereinte Königreich nicht auch ohne Segen aus Brüssel eine solide Großmacht darstellen kann.

Eigentlich eine gute Gelegenheit für Linke, über Staat, Kapital und die schlechten nationalistischen Alternativen, die sich aus ihnen ergeben, aufzuklären und darum gegen die EU und gegen den Nationalstaat gleichermaßen zu agitieren. Uneigentlich aber kann die Linke ja von ihrer Liebe zum Volk nicht lassen und findet darum mehr Volksbeteiligung erst mal prima. Und weil sie immer den Verdacht hat, das Volk herrsche gar nicht genug, hält sie Verfassungen für eine schwere Kette, an die die Herrschenden gelegt werden sollten. Das geht so weit, dass einige Linke sogar die konkret vorgeschlagene EU-Verfassung mit ihrer Festschreibung der bisherigen EU-Politik erst einmal wollen, weil eine schlechte immer noch besser als keine Verfassung sei. Gerade die ostdeutsche Volkspartei PDS hat momentan das Problem, ihren Spagat zwischen staatsmännischem Verantwortungsgehuber und der Bedienung staatsbürgerlicher Unzufriedenheit, zwischen verschämter Liebe zu europäischem Großmachtstreben und albernem Sozialstaatsidealismus halbwegs überzeugend zu vermitteln. Die Verwandlung der Frage, was von dem deutschen Großmachtprogramm zu halten ist, in ein methodisches Problem, dass die Bürger darüber abstimmen müssen, ist für die ostdeutschen Regierungssozialisten sicherlich der Königsweg. Für alle anderen gilt: Der Hauptfeind ist immer das eigene Staatenbündnis. Und: Wer Völker fragt, kriegt völkische Antworten.

Ilka Schröder war von 1999 bis zum Juli 2004 Mitglied des Europa-Parlaments