Walter Benjamin gehört allen

Die 6. Werkleitz-Biennale, die in diesem Jahr erstmalig in Halle stattfand, beschäftigte sich mit Fragen rund um das Copyright. von gesa karamanlis

Fritz Weineck, Hornist im Spielmannszug des Roten Frontkämpferbundes, wird 1925 bei einem Überfall der Polizei auf eine Wahlkundgebung Ernst Thälmanns im Volkspark zu Halle ermordet. Seine Geschichte wird zum Mythos, DDR-Schriftsteller stellen ihn in den Mittelpunkt von Romanen, in denen es um »echte Volkstypen mit Schläue und Mutterwitz« geht, und er wird von Genossen und später wohl oder übel auch von Hannes Wader besungen als »unser kleiner Trompeter, das lustige Rotgardistenblut«. Seine Statue wird ans Ufer der Saale gestellt, am Tag der Jugendweihe defilieren in DDR-Zeiten Teenager an ihm vorbei. 1990 wird die Statue mit Farbbeuteln und Glassplittern beworfen und daraufhin im Keller einer städtischen Sammlung eingemottet.

Jetzt aber ist sie wieder da, steht farbfleckig und arg mitgenommen im Foyer des weitläufigen und schön unsanierten Volkspark-Gebäudes in Halle, inmitten von Vitrinen mit Hinrichtungsbeilen, Kupferstichen und Schmetterlingssammlungen. »Property of the People of Halle« heißt dieser Ausstellungsteil der 6. Werkleitz-Biennale, in der die KuratorInnen alle Museen, Sammlungen und Archive der Stadt aufgefordert haben, ein exemplarisches Exponat zur Verfügung zu stellen und damit so etwas wie das kollektive Gedächtnis der Hallenser Bevölkerung abzubilden.

Die Werkleitz-Biennale war seit ihrer ersten Ausgabe 1994 nie ein aus seiner Örtlichkeit herausgelöstes Kunstevent. Immer war es den Werkleitzern darum gegangen, die eigene Situiertheit in der sachsen-anhaltinischen Provinz, den Dörfern Werkleitz und Tornitz, in ihrem Medienkunstfestival mitzudenken – das Ländliche, die leerstehenden LPG-Scheunen, den örtlichen Jugendclub, das für die metropolengewohnten Besucher ans Exotische grenzende Flair von Kopfsteinpflaster, Baggersee und Dorfgasthof.

In diesem Jahr nun ist die Werkleitz-Gesellschaft mitsamt ihrem Aushängeschild, der von Ulrich Wickert seinerzeit als »Documenta des Ostens« geadelten Werkleitz-Biennale, nach Halle umgezogen. Der Hunger auf eine stärkere Vernetzung mit örtlichen Institutionen, nach einer produktiveren Infrastruktur und einem größeren Publikum war nach zehn Jahren Landleben doch zu groß geworden. Die Zusage der Stadt, den Volkspark als Spielort zur freien Verfügung zu haben, war die Bedingung für den Umzug gewesen.

Vom 1. bis 5. September fand sie nun also statt, die erste Hallenser Werkleitz-Biennale, und prompt war die Reflexion auf den historischen und lokalen Kontext in der Ausstellung so stark wie nie zuvor. Die 6. Werkleitz-Biennale wollte unter allen Umständen beweisen, dass sie genau die richtige ist, um den Volkspark mit seiner wechselvollen Geschichte sensibel und reflektiert zu nutzen, ja den gründerzeitlichen Bau, 1907 von der Arbeiterbewegung als Zentrum für theoretische Schulung und kulturelle Bildung der Arbeiterklasse errichtet, endlich wieder sozusagen seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen.

Das Thema der Biennale, das in eineinhalbjähriger Planungsarbeit von einem siebenköpfigen kuratorischen Team unter der künstlerischen Leitung von Angelika Richter entwickelt und in enger Zusammenarbeit mit den beteiligten KünstlerInnen bearbeitet wurde, nannte sich in diesem Jahr »Common Property / Allgemeingut«. Hieran knüpfte sich eine ganze Reihe von Fragen, die das Medienkunstfestival auf seine bewährte Weise in einer hoch komprimierten Mischung aus Ausstellungsparcours, Filmprogrammen, Diskussionsrunden, Performances und Partys in nur fünf Tagen auffächerte. Organisation, Archivierung und Distribution von Wissen in der »Informationsgesellschaft«, die Debatten um Urheberrechte und den Begriff des geistigen Eigentums, die neoliberale Handhabung der Patentgesetzgebung, die Privatisierung und Monopolisierung von ehedem frei zugänglichen kulturellen Erzeugnissen, die Verschärfung des Copyrights und die rigide Minimierung des öffentlichen Raums – das waren die gesellschaftspolitisch aktuellen Gegenstände, an denen die Biennale ihr Thema »Allgemeingut« verhandelte. Und sie tat das, auch wie gewohnt, nicht als leicht erschließbares, kundenfreundliches Kunstevent, sondern als vielgestaltige Ansammlung theoretisch grundierter Arbeiten, die sich alle gegen das bloße Prinzip des Schauens und Staunens verwahrten.

So verfolgte Ines Schaber den Weg eines Fotos vom Straßenkampf in Berlin 1918, das mittlerweile in den Besitz von Bill Gates’ Firma Corbis gelangt ist. Corbis kauft seit Jahren weltweit Archive auf, um sie, versehen mit ihrem Wasserzeichen, im Netz zu verkaufen. Diese Praxis ist aufgrund der Regelungen des Wipo (World Intellectual Property Organisation)-Abkommens seit 1996 rechtlich abgesichert, obwohl viele der von Corbis feilgebotenen Fotos nach internationalem Recht schon seit Jahren gemeinfrei sind.

Sebastian Lütgert, gegen den wegen der Veröffentlichung von Adorno-Texten auf seiner Webseite textz.com immer noch ein Verfahren anhängig ist, lancierte ein Open-Source-Plädoyer auf der Leinwand: Er projizierte ein frei im Netz herunterladbares Bild von Walter Benjamin, das, mit ebenfalls freien php-Skripts behandelt, die eigentlich proprietäre Software des Videoschnittprogramms Final Cut in sich birgt. Lara Almarcegui hat es in langen Verhandlungen mit Stadt und Privateigentümern geschafft, zwei Brachflächen in der näheren Umgebung des Volksparks zu öffnen und zur Benutzung freizugeben, Tomas Saraceno ließ in einer Außenrauminstallation Ballons schweben, bewachsen mit Pflanzen, die sich nur vom »Allgemeingut« Luft ernähren, deren Feuchtigkeit sie speichern.

Ganz der Auseinandersetzung mit historischen Ansätzen der Wissensvermittlung verhaftet waren die »Inserts«, von einer Künstlergruppe über das ganze Volkspark-Gebäude verstreut. So war ein Raum als Interpretation von Rodtschenkos Entwurf eines Arbeiterklubs gedacht, Arbeitstisch, Stellwände, Wandzeitungen und Infomappen zur Geschichte von Volkspark, Bauhütte und konstruktivistischer medialer Gestaltungsmittel in der hallensischen Kunstproduktion zu DDR-Zeiten inklusive. Der Rückgriff auf avantgardistisch-didaktische Konzepte der klassischen Moderne fand sich auch in allen anderen »Inserts«, sei es bei der Adaption eines Bühnenbilds zu Tatlins Volksbildungstheater oder einer Ausstellungsarchitektur Moholy-Nagys, die dafür herhalten musste, mit Infos zur städtebaulichen Utopie der Rasterplan-Plattensiedlung Halle-Neustadt beklebt zu werden.

Der Wille zum Anknüpfen an Traditionen war im kuratorischen Konzept der diesjährigen Biennale stark zu spüren. Die Re-Konstruktion und künstlerische Interpretation einer Vergangenheit, sei es die der sozialen Bewegungen der Weimarer Republik, der künstlerischen Avantgarde der Moderne oder der gesellschaftspolitischen Visionen der DDR-Zeit, machte aus der Werkleitz Biennale sicher nicht gleich einen restaurativ-affirmativen, sozialdemokratischen Parteitag oder eine von nostalgisierender »Früher war alles besser«-Stimmung verklebte Gestrigkeitsveranstaltung. Aber etwas weniger didaktische Volkshochschulattitüde und »Ästhetik des Widerstands« hätte, zumindest was die Ausstellung betrifft, nicht geschadet.

Die ganze Biennale war ein einziges großes Allgemeingut, das es sich mit Hilfe von Katalog, stapelweise Beipackzetteln, dem dicken Materialienband »Sourcebook« und Führungen anzueignen galt. Für Programmpunkte, die weniger komplexe Aneignungstechniken verlangten, war man dann mitunter ganz dankbar und freute sich über die Bierbänke unter den Kastanien vor dem Volkspark, die wildstylige Zaubershow von Manuel Muerte, die »Cover Quiz Battle«, in der es ganz bildungsbürgerlich darum ging, die Originalinterpreten von Musik-Coverversionen zu wissen. Man genoss die Perlen im Filmprogramm – die »Sonic Outlaws« von Craig Baldwin und Alain Resnais’ hochironische Dokumentation über die Pariser Bibliothèque Nationale zum Beispiel – und die Diaprojektion von Can Altay: Sie zeigte einfach nur überfüllte deutsche Mülltonnen – auf denen oft genug »Werttonne« steht – und fragte, was mit Privateigentum geschieht, wenn es als Konsumrest wieder der Allgemeinheit zufällt.

Der Kampf ums Allgemeingut – Wissen, Bilder, Musik, Kunst, Erinnerung, Erbmaterial, Lebensgrundlagen – ist noch lange nicht entschieden, er wird sich in den nächsten Jahren noch drastisch verschärfen. Immer rabiater werden Musikindustrie, Verlage und Rechteinhaber den Schutz des Autors vorschieben, um die Verbreitung seines »geistigen Eigentums« optimal vermarkten zu können. Immer portionierter und vorstrukturierter werden Wissen und Information in dafür vorbereitete profitable Kanäle geleitet werden, und immer mehr Mikroorganismen, Urwaldpflanzen und menschliche Körperteile werden über Patente großen Pharmakonzernen gehören.

Um jedoch zu zeigen, wie man sich gegen diese Prozesse rüsten könnte, dafür war die Werkleitz-Biennale in diesem Jahr ein bisschen zu sehr auf die große historisch-analytische Linie und die Befragung des Potenzials alter aufklärerischer, bildnerischer Strategien bedacht.