Zu jung für diese Stadt

Chemnitz schrumpft. Unter den Verbliebenen gewinnen konservative und rechtsextreme Kräfte an Einfluss. von andré seitz

Nach drei Uhr wird die Musik ruhiger, die letzten Partylöwen sammeln sich an der Theke des Chemnitzer Clubs »Atomino«. Kurz vor der Landtagswahl sind die Gespräche gehaltvoller als gewöhnlich. »Die Leute hier begreifen sich nicht als Mitte von Europa.« Jens Farag dreht sich langsam eine Zigarette, während er spricht. »Bei der letzten SPD-Ortsvereinssitzung habe ich vorgeschlagen, Chemnitz für alle Ausländer zu öffnen, die hierher ziehen wollen. Die Genossen haben nur mit den Köpfen geschüttelt.« Wenn es nach dem aus dem Rheinland stammenden Rechtsanwalt und Landtagskandidaten ginge, müsste alles ganz anders aussehen. »Die Stadt ist für mich die Brücke zwischen Berlin und Prag und muss sich öffnen.«

Demographische Studien zeichnen ein trostloses Bild von Chemnitz. Der Altersdurchschnitt von 45 Jahren ist der höchste Deutschlands. Auf Plakaten des städtischen Netzwerks für Kultur- und Jugendarbeit verkündete ein bekümmerter junger Mann: »Ich bin zu jung für diese Stadt!« Vor allem jüngere Frauen wandern ab, weil sie keine Lohnarbeit finden. Chemnitz gleicht vielerorts einer Geisterstadt, 42 000 Wohnungen stehen leer. Die aktuelle Studie »Deutschland 2020« prognostiziert einen weiteren Bevölkerungsrückgang um 25 Prozent bis zum Jahr 2020. »Wir müssen uns darauf einrichten, statt in einer Stadt mit 300 000 Einwohnern in einer Stadt mit 200 000 zu leben«, meint Dominik Zschocke, ein Vertreter der Grünen im Chemnitzer Stadtrat.

Dort sitzen seit der Kommunalwahl im Juni auch fünf Republikaner. Schuld an der sozialen Misere seien Fremde, Obdachlose und die Zahlungen des Staates ans Ausland, lauteten die Thesen der Partei im Wahlkampf, mit denen sie zehn Prozent der Stimmen gewinnen konnte. Ihr Spitzenergebnis erzielten die Republikaner im Stadtteil Ebersdorf, wo sich das zentrale Asylbewerberheim für Sachsen befindet. »Die gehen nicht arbeiten und haben viel teurere Klamotten als wir«, sagt eine Anwohnerin über die Flüchtlinge.

»Ein Fall aus meiner Arbeit ist so typisch für Chemnitz«, erzählt Jens Farag. Als die Iranische Botschaft seinem iranischen Mandanten eine Ledigkeitsbescheinigung mit der Begründung verweigerte, seine deutsche Ehefrau sei keine Muslimin, habe die Standesbeamtin zu der Frau gesagt: »Warum werden Sie dann nicht Muslimin, die Viertelstunde Zeit werden Sie wohl haben?« Für Farag steht fest: »Die Mitarbeiter in diesen Behörden sind oft schlichtweg rassistisch.«

Rassistische Übergriffe werden nur in drastischen Fällen bekannt. Im September 2002 attackierten mindestens drei Männer den aus Kamerun stammenden Fußballer Cesar M’boma auf dem Stadtfest, schlugen ihn und beschimpften ihn mit ausländerfeindlichen Parolen. Ein Vierteljahr später verübten vier Männer einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim im Stadtteil Kappel. Im Stadtteil Sonnenberg wurden während der Fußballeuropameisterschaft zwei Studenten krankenhausreif geprügelt, weil sie einer Gruppe Sonnenberger »Holland, Holland!« entgegengerufen hatten. Einer der Studenten musste den schwarz-rot-goldenen Schal eines Angreifers küssen.

Unweit vom Ort dieses Übergriffs betreibt ein Rechter ein Internetcafé, in dem täglich Skinheads verkehren. Weiter die Straße hoch befindet sich die Stammkneipe der Republikaner. Die NPD plakatierte hier vor den Landtagswahlen besonders gründlich. »Grenzen dicht für Lohndrücker«, »Quittung für Hartz IV« oder »Wahltag ist Zahltag« stand auf den Plakaten, die jedoch keine drei Wochen hielten. Viele wurden heruntergerissen oder mit Graffiti besprüht, manche mit Zetteln beklebt: »Die Rattenfänger von heute«.

Ganz oben auf dem Sonnenberg steht das Humboldt-Gymnasium, wo die Aktivitäten der »pennalen Burschenschaft Theodor Körner« ihren Anfang nahmen. Dort pflegt man Kontakte zur Jungen Landsmannschaft Ostpreußen und liest Publikationen rechtsintellektueller Institutionen des Thule-Seminars und des Instituts für Staatspolitik. Aufgebaut wurde die Burschenschaft mit der Unterstützung alter Herren wie dem Republikaner Martin Kohlmann und dem Jenaer CDU-Mitglied Mirko Kühnel.

Verbindungen vom konservativen ins rechtsextreme Spektrum scheinen auch im Chemnitzer Stadtrat zu existieren. Nach der Kommunalwahl hatten zwar die Fraktionen abgesprochen, eine Beteiligung der Republikaner an den städtischen Ausschüssen zu verhindern. Doch gleich bei der ersten Wahl erhielt Kohlmann sechs Stimmen, eine mehr als die fünf der Republikaner, und zog in den Verwaltungs- und Finanzausschuss ein. In den fünf der sieben Ausschüsse, in denen die Rechten jetzt sitzen, sind sie das Zünglein an der Waage. »Dass die PDS stärkste Fraktion im Stadtrat ist, ist in den Ausschüssen kaum noch spürbar«, stellt Patrick Pritscha fest, der auf der offenen Liste der PDS in den Stadtrat gewählt wurde. »Faktisch hätte es eine rot-rote Mehrheit in den Ausschüssen gegeben, wenn die Absprachen eingehalten worden wären«, sagt Ulf Kallscheidt von der SPD. Doch es kam anders. »Das Kalkül einiger Konservativer, jemanden aus dem rechten Lager in den Ausschüssen sitzen zu haben, mit dem man kooperieren kann, könnte eine Rolle gespielt haben.«

Der Stuhl des Chemnitzer Bürgermeisters Peter Seifert (SPD) wackelt, seit die SPD nur noch mit zehn Sitzen im Stadtrat vertreten ist. »Wir sind keine gestalterische Kraft mehr«, meint Kallscheid. Dagegen hofft die CDU auf den Sieg bei der Bürgermeisterwahl, die mit den Landtagswahlen am 19. September stattfindet. Kandidieren wird voraussichtlich Stadtkämmerer Detlef Nonnen, der auch mit der Unterstützung der Lokalpresse rechnen kann: Er und der Chefredakteur der Chemnitzer Tageszeitung Freie Presse sind Nachbarn und fahren gemeinsam in den Segelurlaub.

Die Freie Presse ist treu konservativ. Haben Nicht-Deutsche etwas ausgefressen, wird das gern erwähnt, während man etwa über die Beteiligung von Neonazis an den Montagsdemonstrationen in Chemnitz nichts lesen konnte. Solche Nachrichten gibt es nur über andere Städte.

Tatsächlich steigt die Zahl der Demonstrierenden aus dem rechtsextremen Spektrum Woche für Woche. Anfänglich wurde versucht, die Rechten, die mit Transparenten wie »Deutsche Arbeit nur für Deutsche« oder »Für die deutsche Volks- und Solidargemeinschaft« erschienen, aus der Demonstration zu drängen, was aber nicht glückte. Vor zwei Wochen gelang es den Nazis sogar, den Demonstrationszug zu blockieren und eine Änderung der Route zu erzwingen. Und in der vergangenen Woche reihten sich etwa 60 Personen aus dem Umfeld der so genannten freien Kameradschaften hinter einer Polizeikette am Demonstrationsende ein, während andere Rechte im Block der etwa 2 500 Bürger mitliefen. Eine Gruppe jugendlicher Demonstranten wurde nach Eierwürfen auf die Nazis von der Polizei angegriffen, einer wurde wegen Beamtenbeleidigung verhaftet.

In den Prognosen zur sächsischen Landtagswahl liegt die NPD bei acht Prozent, die SPD im Rekordtief bei 10 Prozent. »Über meinen Listenplatz habe ich keine Chance, in den Landtag zu kommen«, sagt Jens Farag, dem die Hoffnung bleibt, wegen seiner lokalen Prominenz genügend Erststimmen sammeln zu können.