Reizende Lohnarbeit

Warum ein Mindestlohn im Zusammenhang mit Hartz IV diskutiert wird, ist ein Rätsel. Das eine hat mit dem anderen nicht viel zu tun. von christian brütt

Von den 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben 18 einen gesetzlichen nationalen Mindestlohn pro Stunde oder pro Monat festgelegt. Solche gesetzlichen Mindestlöhne setzen einen Minimalstandard, der vor allem jenen zugute kommt, die unter faktischer Lohndiskriminierung leiden oder überproportional häufig in schlecht bezahlten Jobs arbeiten. Zumeist sind davon Frauen und MigrantInnen betroffen.

Einige deutsche Gewerkschaften, darunter die »Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten«, sind überzeugt, dass sich mit Mindestlöhnen das aus den USA bekannte Phänomen der working poor, der Armut trotz Arbeit, verhindern ließe. Frank Bsirske, der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi brachte einen Stundenlohn von 7,50 Euro als Mindestsatz ins Gespräch.

Nicht ersichtlich ist, warum der Mindestlohn derzeit stets in Zusammenhang mit Hartz IV diskutiert wird. Denn als arbeitsmarktpolitisches und zugleich sozialpolitisches Instrument wirkt die Einführung eines Mindestlohnes erst, wenn bereits ein Job gefunden wurde. Die Kürzungen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II, das auch als »Grundsicherung für Arbeitssuchende« bezeichnet wird, bleiben davon unbetroffen. Insofern ist ein Mindestlohn keine Abmilderung von Hartz IV. Er kann allenfalls die Aufnahme einer Lohnarbeit, falls vorhanden, attraktiver machen und ergänzt damit den durch die Sozialkürzungen erzeugten Effekt, Arbeitslose in Richtung des Arbeitsmarktes zu drängen. Der Peitsche würde ein Stück Zuckerbrot hinzugefügt. Eine Verbesserung ergäbe sich erst dann, wenn ein gesetzlicher Mindestlohn den Zumutbarkeitskriterien hinzugefügt würde.

Bislang galt die Sozialhilfe als faktischer Mindestlohn, der Erwerbslose theoretisch davon abhielt, ihre Arbeit im Niedriglohnbereich anzubieten, sodass Arbeitgeber mangels Nachfrage solche Jobs nicht schufen. Die Sozialhilfe war ein out-of-work benefit, der zumindest auf dem Papier nach Bedarf geleistet wurde – unter der Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigen grundsätzlich arbeitswillig waren. Diese so genannte »passive« Hilfe geriet in Deutschland wie auch in anderen Ländern in die Kritik, weil sie angeblich Abhängigkeiten erzeuge.

In der internationalen Debatte tauchen immer wieder drei Spielarten des Abhängigkeitsarguments auf, die von Land zu Land unterschiedlich häufig herangezogen wurden, um Kürzungen bei der Sozialhilfe zu rechtfertigen: Disincentives, also ökonomische Fehlanreize durch einen vermeintlich zu geringen Abstand der Sozialleistungen zum auf dem Arbeitsmarkt erzielbaren Lohn; Deprivation, die persönliche Entmutigung durch die Erfahrung anhaltender Arbeitslosigkeit; und Devianz, was eine aufkommende Kultur des »Fehlverhaltens« meint, ein Leben jenseits des Arbeitsmarktes, das durch staatliche Sozialleistungen ermöglicht wird.

Ob diese Kritikpunkte zutreffen, sei dahingestellt. Die Hinweise darauf, dass es bereits Niedriglohnsektoren gibt, auch tariflich vereinbarte, und allenfalls ein paar Leute in der so genannten Sozialhilfefalle sitzen, spielten in der Diskussion um die Hartz-Gesetze jedenfalls keine Rolle. Neben den angestrebten Einsparungen wurde mit den Abhängigkeitsargumenten ein Richtungswechsel in der Sozialhilfepolitik begründet. Die »passive« Zahlungspolitik wurde durch eine »aktive« bzw. »aktivierende« ersetzt, aus out-of-work benefits sollen in-work benefits werden.

Mit dem Arbeitslosengeld II werden nun andere Prioritäten gesetzt: Zeigt eine Person die Bereitschaft zu arbeiten nicht, wird keine Rücksicht auf ihre Bedürftigkeit genommen, und der Bedarf soll möglichst durch eine Kombination aus der Sozialleistung und dem Erwerbseinkommen aus Ein-Euro-Jobs gedeckt werden. Diese Form der Pflichtarbeit, wahlweise damit begründet, Langzeitarbeitslose würden wieder an die Arbeit gewöhnt, die schlechte Bezahlung diene als Abschreckung oder der Job sei das Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt, war bereits im früheren Sozialhilfegesetz unter der Rubrik »Hilfe zur Arbeit« enthalten. Damals hießen die Jobs etwas hölzerner »Mehraufwandsentschädigungsvariante«. Wie bei der Sozialhilfe wird auch unter Hartz IV zusätzlich zur Sozialleistung ein Stundenlohn von ein bis zwei Euro gezahlt. So sollen in den Gemeinden die Arbeiten erledigt werden, die sonst niemand machen will.

Weil die Pflichtarbeit nicht zum regulären Arbeitsmarkt zählt, nützt ein gesetzlicher Mindestlohn hier gar nichts. Im Gegenteil, wenn die billige, staatlich verpflichtete und alimentierte Konkurrenz ohnehin schon reguläre kommunale Arbeitsplätze, wie zum Beispiel im Gartenbau, zu verdrängen droht, könnte sich die Situation für Firmen vor Ort bei einem hoch angesetzten Mindestlohn noch verschärfen. Sie könnten mit den staatlichen Billigarbeitern nicht konkurrieren.

Überhaupt stehen gesetzliche Mindestlöhne nicht per se im Widerspruch zu einer Ausdehnung des Niedriglohnsektors. Sind sie zu niedrig angesetzt, wirken sie auf die Tariflöhne wie ein Sog nach unten. Dieses Szenario scheint derzeit am wahrscheinlichsten, weil sie ganz auf der Linie des Aktivierungsansatzes bzw. der work-first-Strategie liegt.

Jenseits ihrer grundsätzlichen Bedenken gegenüber staatlichen Eingriffen in die Tarifautonomie sehen die Gewerkschaften in dieser Sogwirkung das Hauptproblem eines staatlich fixierten Mindestlohns. Darüber hinaus stellen sie sich die Frage, warum überhaupt noch irgendwer bei ihnen Mitglied werden soll, wenn die Löhne staatlich festgelegt und nicht mehr von den Vertretungen der Lohnabhängigen erkämpft werden. Doch angesichts bereits bestehender Niedriglohnbereiche und der seit einigen Jahren beklagten Erosion des Flächentarifvertrages könnte der staatliche Eingriff sogar auch nützlich sein. Der gesetzliche Mindestlohn wäre eine Ergänzung zum tariflichen Mindestlohn, und wenn zudem die Gewerkschaften an der Festlegung der Mindestlöhne beteiligt wären, hätten sie weiterhin einen Grund für die Mitgliedschaft zu bieten.

Für die Regierung bietet der gesetzliche Mindestlohn Vorteile, die vor allem vor Wahlen nicht zu unterschätzen sind. Anders als bei der Sozialhilfe müsste sie allenfalls seine Kontrolle gewährleisten, nicht jedoch für die Lohnkosten aufkommen. Einem Lohnabhängigen einen Mindestlohn zu garantieren, lässt sich darüber hinaus wunderbar verkaufen.

Erst in der Kombination mit einem garantierten Grundeinkommen könnte tatsächlich von einem Richtungswechsel in der Arbeitsmarktpolitik gesprochen werden. Ein ausreichend hoher gesetzlicher Mindestlohn würde dafür sorgen, dass niemand arbeitet und dennoch arm ist. Ein von der Bereitschaft zu arbeiten entkoppeltes, als soziales Bürgerrecht verstandenes Grundeinkommen würde dafür sorgen, dass auch ohne Lohnarbeit eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich ist. Auf dieser Grundlage verlöre die heutige Aktivierungspolitik ihren repressiven Beigeschmack.

In diesem Falle spräche auch nichts dagegen, Arbeitssuchende als KundInnen zu behandeln: Sollte ihnen der angebotene Job oder die Qualifizierungsmaßnahme nicht zusagen, sagen sie einfach nein.