Schöner leben ohne Chefs

Das »Café Klatsch« in Wiesbaden feiert seinen 20. Geburtstag. von ralf dreis

Als Roland Koch am 4. September die neue Staatskanzlei in Wiesbaden einweihte, benötigte es kaum Polizei, um die zu diesem Anlass angekündigten Proteste gegen die Politik des hessischen Ministerpräsidenten im Rahmen zu halten. Von den über 80 vom Wiesbadener Sozialforum angeschriebenen Frauen-, Sozial- und Kultureinrichtungen der Stadt, denen die Gelder gekürzt oder gestrichen worden waren, hatte nur eine auf das Schreiben reagiert.

Das war nicht immer so in Wiesbaden.

Anfang der achtziger Jahre etwa gab es nicht nur vielfältige Sabotageaktionen gegen die Frankfurter Startbahn West. Es fand sich auch eine Gruppe zusammen, welche die widerständischen Aktivitäten in einen kollektiven Arbeitsalltag transformieren wollte. So wurde die Kollektivkneipe »Café Klatsch« gegründet.

Am 18. September lädt das »Café Klatsch« nun zum Jubiläumsfest. 20 Jahre Konsensbeschlüsse und Einheitslohn, 20 Jahre Montagsplenum, kollektives Bedienen, Streiten und Lachen. Zwar ist es nix geworden mit der sozialen Revolution, doch zumindest ist das »Klatsch«, Stadtteilcafé und Szenekneipe, seit 1984 der Beweis dafür, dass es sich ohne Chef oder Chefin ganz gut leben lässt. Und das soll »auch noch mindestens 20 Jahre so weitergehen«, findet Mario, einer der DJs, der seit 1998 dabei ist.

Schnell entwickelte sich das »Klatsch« in den achtziger Jahren zum Treffpunkt der autonom-anarchistischen Szene in Wiesbaden und Umgebung. Es fungierte als zentrale Koordinierungsstelle des Volkszählungsboykotts, als Treffpunkt für das Bier nach dem sonntäglichen Strebenknacken am Startbahnzaun und Zentrale der Proteste zu Tschernobyl, Wackersdorf, der Hamburger Hafenstraße, Bad Kleinen und Gorleben sowie gegen Nazis, Krieg und Großdeutschland. Generationen von SchülerInnen haben hier die Schule geschwänzt, Bürgerinitiativen und autonome Gruppen Hausbesetzungen und Demos geplant, gestresste Mütter eine Auszeit bei biologischem Nicaragua-Kaffee genommen, während der Nachwuchs ungestört das »Klatsch«-Kinderzimmer zerlegte.

Politische Brüche und private Veränderungen wirkten sich durch Ein- oder Ausstiege auf das »Klatsch« aus. Gab es schon nach den tödlichen Schüssen auf Polizeibeamte im Jahr 1987 an der Startbahn West und der darauf folgenden Repressionswelle eine merkliche Schwächung der Wiesbadener Szene, so erfolgte nach Bad Kleinen die weitgehende Selbstauflösung der »Antiimps« und der Autonomen. Die Enttarnung des VS-Spitzels Klaus Steinmetz, der 1988/89 im »Klatsch« gearbeitet hatte und Teil der autonomen Szene Wiesbadens gewesen war, war ein Schock.

Heute ist die Szene kaum mehr existent, politische Gruppen haben sich aufgelöst. Geblieben sind einige RestaktivistInnen aus dem anarchistischen Spektrum, neue Mütter mit neuen Kindern und der undogmatische »Service« im »Klatsch«. Die Auflösung der Szene hat sowohl seine Kundschaft verändert als auch phasenweise zu Nachwuchsproblemen für das Kollektiv geführt. Obwohl »schon seit zehn Jahren keine linksradikale Politik« mehr gemacht werde, wie Mario sagt, halten Plakate, Flugblätter und Broschüren den Schein aufrecht. Im Plenum wird weiterhin unermüdlich um den richtigen Weg gestritten. Finanzkrisen, Männer- und Frauenplena, versteckte Hierarchien, Liebesverwicklungen und 25 verschiedene Arten, einen Salat zuzubereiten – an Themen mangelt es nicht.

Geblieben sind auch die Infoveranstaltungen, das Frühstück bis 24 Uhr, Essen mit glücklichem Gemüse, Biobier, keine Cola und angenehme Preise in dem stuckverzierten wunderschönen Café. Für den Einstieg ins Kollektiv braucht es kein Kapital, wer aussteigt, geht ohne finanziellen Gewinn. Die 15 bis 20 KollektivistInnen bestimmen, was läuft. Um das »Klatsch« dem Immobilienmarkt zu entziehen, finden derzeit Gespräche mit dem Freiburger Mietshäusersyndikat statt. Und die Feste sind nach wie vor geiler als die von Roland Koch.

20 Jahre »Café Klatsch« – Straßenfest am 18. September ab 10 Uhr in der Marcobrunnerstr. 9.