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Mehrere zehntausend Menschen zogen am Jesus-Tag durch Berlin und beteten, was das Zeug hielt. von daniel kretschmar

Pünktlich um zehn Uhr, mit Beginn des Auftaktgottesdienstes, öffnen sich die Schleusen des Himmels. Die Jesuspeople zeigen sich ungerührt, einige danken dem Herrn lautstark für den Regen und werden kurz darauf mit strahlendem Sonnenschein belohnt. Der Marsch für Jesus, einmal vom Brandenburger Tor bis zur Neuen Wache und zurück, führt an Lautsprecheranlagen vorbei, aus denen vergeistigte Schlager klingen.

Diverse Freikirchen, Pfingstgemeinden und charismatische Bewegungen hatten für den 11. September nach Berlin gerufen, einen »Jesus-Tag« zu begehen, und etwa 40 000 Gläubige waren dem Aufruf gefolgt. Die Unterstützung durch die beiden großen Kirchen hielt sich in Grenzen; das gegenseitige Misstrauen ist immer noch so groß, dass die Grußworte des evangelischen Bischofs Wolfgang Huber und des katholischen Kardinals Georg Sterzinsky schon in ihren eigenen Kirchen mit Stirnrunzeln bedacht wurden.

Das Datum war nicht zufällig gewählt, wollten doch die Veranstalter »am Jahrestag der schrecklichen Anschläge von 2001 ein bewusstes Zeichen der Versöhnung und des Friedens setzen«, wie Axel Nehlsen, Vorsitzender des Jesus-Tag e.V. und im Nebenberuf dotcom-Unternehmer, betonte. Sein Internetversandhandel, der Down To Earth Shop, bietet Bücher, DVDs und CDs aus dem reichhaltigen Sortiment spiritueller Bedürfnisbefriedigung für Christinnen und Christen. Hier findet man zu jeder Gelegenheit eine große Auswahl an Material, das vor allem helfen soll, richtig für die eigene Stadt, das eigene Land oder bei Bedarf auch für die ganze Welt zu beten. Nun haben gerade Gottesdienste freikirchlicher Prägung nicht selten den Charakter von Verkaufsveranstaltungen, wo unter teils befremdlichen Ausbrüchen spontaner Verzückung das Seelenheil herbeijubiliert wird. Die Bedeutung solcher Kirchen wie der methodistischen, der baptistischen oder der Pfingstgemeinden auf ein kommerzielles Gepräge zu reduzieren, ist jedoch nicht so leicht möglich.

In der Regel ist der religiöse Habitus echt, da wird nicht nur Wasser gepredigt, sondern ebensolches auch getrunken. Im Gegensatz zu den beiden Staatskirchen beschäftigen ihre kleineren Geschwister das Finanzamt nicht als Inkassounternehmen, daher auch ihr Name: Freikirchen.

Ganz ihrem hierarchiefeindlichen Charakter entsprechend ist der Jesus-Tag vornehmlich eine Basisveranstaltung. Statt prominent besetzter Podiumsdiskussionen wie beim Kirchentag wird gemeinsam gebetet, getanzt, gesungen und demonstriert: für Jesus – den kleinsten gemeinsamen Nenner in einer Religion, deren Untergliederungen, Abspaltungen und Sekten ganze Enzyklopädien der Kirchengeschichte füllen.

Zwischen dem Brandenburger Tor und der Neuen Wache wird an verschiedenen Gebetsstationen Fürbitte geleistet: vor der US-amerikanischen Botschaft darum, dass der Herr jener Regierung die Weisheit schenken möge, eine Politik des Friedens und der Liebe zu praktizieren; vor der Staatsbibliothek wird Gott bemüht, den Wissenschaftlern die Erkenntnis zu schenken, dass alles auf der Welt nur durch ihn ist; den Künstlern wird gerade in Zeiten finanzieller Einschnitte viel Kraft und wiederum Liebe gewünscht; und an der Neuen Wache bittet der Lautsprecher um die Einheit der Kirche.

Mittendrin fallen Jesus-Freaks, eine Art fundamentalistische Jugendtaskforce, über wehrlose Passanten her – mit ihrem im Chor gebrüllten Sprüchlein von »Jesus, der auch für deinen Scheiß gestorben ist«.

Die Stimmung ist zwar gut, aber nicht ausgelassen, die zumeist von weither angereisten Gläubigen ahnen wohl bereits, dass ihr Treiben in einer Stadt von der Größe Berlins nicht allzu viel Wirkung zeitigen wird. Als die Jünger Jesu nach einem weiteren Gottesdienst vor dem Brandenburger Tor ausschwärmen, Babylon zu bekehren, und dazu an über 40 Orten zugleich verschiedene, Gebetsgruppen bilden, sinkt die ihnen entgegengebrachte Aufmerksamkeit gegen Null.

So gehen sie hin und beten, für die Bildung, die Kunst, Eltern, Kinder (ja, auch die ungeborenen), für Frauen, Rentner, das Gesundheitswesen an sich, Gehörlose, verfolgte Christen, Wirtschaft und Verwaltung, die Umwelt. Am Reichstag wird für Deutschland gebetet, die Gebetsimpulsgruppen streng nach Bundesländern geteilt, für Obdachlose werden in einer Wärmstube Teetassen bemalt, ein »Tee-Mobil« fährt zum Marlene-Dietrich-Platz, um Touristen und Einheimischen den Weg »vom Cappuccino zu Christus« zu zeigen. Vor dem Spielcasino spielt eine Band mit lasziver Frontfrau – nein, die gehört nicht dazu, getanzt wird trotzdem.

Das Gebet für die sexuelle Identität, angeboten von einer Gruppe, die auch das Rezept kennt, wie Homosexualität zu heilen ist, fällt ersatz- und kommentarlos aus, vielleicht aus Rücksicht auf den Regierenden Bürgermeister, der im Programmheft mit einem Grußwort vertreten ist.

Sehr gut besucht und von einem vergleichsweise großen Polizeiaufgebot beschützt ist die Solidaritätsveranstaltung für Israel auf dem Alexanderplatz. Überhaupt sind an diesem Tag so viele weiß-blaue Flaggen in Berlin-Mitte zu sehen, wie es bei keinem antideutschen Aufzug vorstellbar wäre. Eine Deklaration mit dem Bekenntnis der Schuld des christlichen Antisemitismus am Holocaust und der Bitte um Vergebung und der Hoffnung auf Versöhnung wird verlesen. Sie tun gut daran, die deutschen Freikirchen. Während die offizielle evangelische Kirche zumindest eine »innere Opposition« gegen das NS-Regime vorweisen konnte, war beispielsweise die einzige ernsthafte Beschwerde der Methodisten die, dass das Heer ihnen keine Feldgeistlichen zugestehen wollte. Ansonsten ließ man sich vom Führer Orgeln stiften und machte gerade bei der US-amerikanischen Mutterkirche, die dort immerhin eine sehr große und einflussreiche Organisation darstellt, Propaganda fürs Reich. Freilich herrschte in Deutschland Ordnung, und die religiöse Betätigung der Methodisten wurde nicht wesentlich eingeschränkt. Und solange die Kirche nicht offen verfolgt wird, kann sie sich ganz ungeniert mit jeder Regierung arrangieren. Das Jesus-Wort, dass dem Kaiser zu geben sei, was des Kaisers ist, immer wieder gern von Geistlichen als Begründung für einen ausgeprägten Untertanengeist verwendet, schickte auch der damalige Methodistenbischof, Friedrich Heinrich Otto Melle, den zweifelnden Gläubigen.

Da nimmt es schon nicht mehr Wunder, wenn beim Familienprogramm auf dem Pariser Platz das Lied »Liebe Gott und deine Lehrer« der absolute Hit ist. Das tut weh. Christliche Liebe kann eben selbst dann recht schmerzhaft sein, wenn sie ohne Feuer und Schwert daherkommt.