Die Jugend von heute

Auszüge aus dem gleichnamigen Roman von Joachim Lottmann

Ich besuchte Elias nun täglich. Das erinnerte mich an unsere gemeinsame Zeit Anfang des Jahrtausends, als Berlin noch boomte und hipper war als New York. Aber jetzt passierte nicht mehr viel. Meistens fand ich einen der Jungen schlafend vor, hingeworfen auf ein Sofa, das Gesicht in ein Kissen vergraben, leicht schwitzend in den Military-Jugendklamotten, während der andere aus dem Computer Stücke von Black Eyed Peas, Turntable Rockers und Nightmares On Wax holte. Sie hatten Hanfpflanzen im Fenster, und diese fünfstöckigen Hi-Fi-Türme, von denen ich dachte, es gäbe sie nicht mehr. Aber in der Kifferjugend blieb die Zeit stehen, und Berlin wurde wieder zu jener alldeutschen Drogenhauptstadt, die es vor der Wende gewesen war.

Elias warf gequält den schlafenden Kopf hin und her, ohne die Augen aufzumachen. Lukas las die Süddeutsche Zeitung. Das kleine Fenster der unsanierten Altbau-Arbeiterwohnung ließ das ohnehin kaum vorhandene Novemberlicht nicht durch. Ich sagte laut, dass ich dieses finstere Stalingrad nun verlassen würde, noch heute. In meiner Wohnung befände sich nur noch ein gepackter Koffer.

Elias schnellte hoch. Sein Gesicht war rot vom Schlaf und sah etwas blöde aus. Aber er sagte etwas Interessantes.

»Wir fahren jetzt nach Tempelhof, damit du mal checkst, wie es in Deutschland außerhalb Berlins aussieht!«

Er meinte, Tempelhof sei wie Hamburg oder Frankfurt, wie Kiel, wie Hannover. Oder zumindest so, wie diese Städte schon bald sein würden: oll und überaltert, ohne Jugend, wirtschaftlich am Boden.

Wir fuhren wirklich hin.

»Guck sie dir an, die verbockten Gesichter!« rief er aus, als wir den Flughafen schon vor uns sahen. Den Flughafen Tempelhof, der wenige Monate später auch noch geschlossen werden sollte. Ich fuhr das Auto auf den Bürgersteig, stellte den Motor ab. Eine 50jährige wurde dabei unschön abgedrängt. Die Ausdruckslosigkeit wich nicht aus ihrem ausgelöschten Blick. Was hatte sie noch zu erwarten? Sie hatte fertig, wie alle hier. Elias hielt seine kleine Rede, deretwegen er mich besucht hatte:

»Die Deutschen sind das unglücklichste Volk der Welt, total vergreist, kraftlos, visionslos … die Stimmung ist doch exakt so wie unmittelbar vor Hitlers Machtergreifung: völlig im Eimer. Aber es kommt kein Hitler mehr …«

Innerhalb Deutschlands ließe es sich nur noch in Teilen Berlins aushalten, wo noch junge Menschen seien. Ich sah aus dem Autofenster. Die vorbeiziehende Schar verbrannter Existenzen erinnerte mich an die endlosen Trecks sudetendeutscher Flüchtlinge bei Kriegsende. Selbst die deutschen Kriegsgefangenen in alten Wochenschauen wirkten noch lustiger als diese Gestalten hier. Kein einziger trug noch ein anständiges Kleidungsstück, einen Stoffmantel, einen Anzug. Überall diese Jogginghosen-Wendeverlierer aus Frankfurt/Oder, wie Roger Willemsen sie beschrieb. Alle über 30 hatten tiefe Ringe unter den Augen. Was nahmen die bloß für Gifte zu sich?

Ich hatte einmal gelesen, dass über die Hälfte aller Deutschen zwischen 50 und 55 in psychotherapeutischer Behandlung war oder dringend eine solche brauchte. Hunderte Milliarden von Euro flossen jährlich in diese Kanäle. Mit dem Geld hätte man ganz Afrika aufbauen können.

Es fiel mir schwer, die Leute weiter zu beobachten. Aufgeschwemmte, unsportliche Fettsäcke, auf uns zuwankend, schwankend, verblödet im lebenslangen Konsumieren, lange vor der Zeit und ohne Not invalide, lebende Tote, unfit und unvital. Die wenigen verbleibenden Kinder benahmen sich wie Könige, wie Tyrannen. Kein Wunder, sie waren die letzten Menschen in diesem Romero-Film. Die ahnten schon jetzt, dass sie ihr Leben nicht in der Rentnerhölle Deutschland verbringen würden. Sollte jeder von ihnen später 23 Rentner durchfüttern? Sie wären ja verrückt!

Diese Kinder sprachen unnatürlich laut. Wie selbstverständlich ignorierten sie jede Diskretion, jede Höflichkeit. Als schrien sie sich im dunklen Wald Mut zu, plärrten und redeten sie stets weit über Zimmerlautstärke. Sie lebten in dem Bewusstsein, alles an ihnen sei göttlich interessant. Ihre Mütter waren in der Regel im Großmutteralter. Und diesen Großmuttermüttern musste man noch gratulieren. Glückwunsch, Mädels! Dass ihr es gerade noch gerafft und geschafft habt! Für eure Singlefreundinnen kommt jede Einsicht zu spät. Sie finden sich im ewigen Altersheim wieder. Und verweilen dort länger, als früher eine ganze Lebensspanne währte …

»Guck sie dir an, diese Nazis …« höhnte Elias.

Für ihn waren alle Rentner in Deutschland Nazis. Da übernahm er die Vereinfachungen unserer Nachbarn im Ausland. Die Frauen mit ihren Brillen und superkurzen Haaren sahen auch wirklich zum Fürchten aus. Der eisige Ostwind blies in ihre extrem uneleganten, unfemininen Sportswearklamotten. An der Bushaltestelle, die wir überblickten, hielten die Busse immer mehrere Minuten lang, weil die Alten so lange zum Einsteigen brauchten. Wir sahen 60jährige mit langen grauen Haaren, hinten zum Zopf gebunden, daneben gleichaltrige Tussen mit Piercingringen im Ohr und wahrscheinlich Tattoos am welken Körper. Sie trugen Rucksäcke und verachteten Autos und anderen Fortschritt, wohl weil sie dreimal durch die Führerscheinprüfung gefallen waren. Dann wieder schwiemelige Kapotthütchen-Typen im Janker oder Trenchcoat, wie schlecht gecastet aus dem letzten »Ärzte«-Spot: ein Panoptikum des Horrors.

»Machen wir den Kleid-Test!« rief Elias. »Wenn von den nächsten hundert Frauen, die kommen, eine einzige keine Hose trägt, sondern ein Kleid, kriegst du zehn Euro.«

Er gewann das Geld. Bald konnte ich nicht mehr hineinsehen in die dumpfe Zombieherde, in der Heidi Simonis, unsere einzige Ministerpräsidentin, wie ein Teenager gewirkt hätte. Ich sah Großeltern, denen die Enkel fehlten. Auf vier Großelternteile kam gerade noch ein knapper Enkel, um den gestritten und gebuhlt wurde und der sich wie ein Diktator benahm. Und überall traf mich unerwartet dieser verdeckte, messerscharfe, schneidende, vorwurfsvolle Blick der Alten, so abgrundtief hassend und verbittert, von dem ein sensibler Inder, träfe ihn dieser Blick, sofort Kopfschmerzen bekäme! Ich bat Eli, das Experiment abzubrechen. Ich hatte genug gesehen.

*

Abends legte ich einen Schlips an und fuhr zur besagten Hippie-Urkommune um Rainer Langhans. Meine Eltern lebten ja nicht mehr, also wollte ich dort Weihnachten feiern.

Barbara Nussmann hatte mich mehrmals eingeladen, aber ich hatte niemals zugesagt. Dafür kam ich jetzt überraschend. Die Dame des Hauses sah mich entsetzt an. Fünf Sekunden lang brachte sie kein Wort heraus. Sie sagte schließlich:

»Du, ich habe nicht mit dir gerechnet.«

»Aber du erkennst mich doch noch! «

»Ja … «

»Ich kann ja schon mal reinkommen.«

»Aber … der Rainer kommt gleich, und ich habe eigentlich nicht mit dir gerechnet …«

Sie wiederholte sich. Ich betrat die Wohnung. Überall brannten Kerzen. Ich sagte, ich trinke vielleicht nur erst mal einen Tee. In Wirklichkeit war ich fest entschlossen, Weihnachten dort zu feiern. Ich setzte mich in die Küche. Barbara setzte ihre kochenden Tätigkeiten fort. Sie sah übrigens sehr schlecht aus. Nicht mehr wie Ende 20, sondern wie Ende 60. In den wenigen Monaten, die wir uns nicht gesehen hatten, war sie um 40 Jahre gealtert.

Da Elias’ Mutter von Beginn an ein Spiegel meiner selbst gewesen war, konnte ich mir ausmalen, wie ich nun selbst aussah.

Warum sah sie so schlecht aus? Sie hatte sich eine Glatze schneiden lassen. Statt ihrer herrlichen, blauschwarzen Locken wuchsen nun weißlich graue Stummelhaare auf dem zerfurchten Schädel. Wie alle deutschen Frauen kochte sie an Weihnachten den ganzen Tag, von früh an bis zur Bescherung und darüber hinaus.

Kaum saß ich, kam auch schon Rainer Langhans. Er hatte wie stets scheinbar schlechte Laune. Unter dieser scheinbar schlechten Laune aber versteckte sich, wie ich später merkte, eine beinhart echte schlechte Laune, eine unterirdisch-grottentief schlechte. Er trug einen weißen Daunen-Anorak aus Indien, dazu eine Rainer-Langhans-Löwenmähne, die inzwischen ebenfalls grau geworden war.

Er saß am kleinen Küchenkindertisch, knackte zwei Stunden lang Nüsse und sagte kein Wort. Manchmal sah man, wie seine Fingerknöchel weiß wurden vor Wut und sein Mund zum Strich, wie der ganze kleine Mann bebte vor Erregung und zurückgehaltener Aggression. Auch Barbara sagte zwei Stunden lang kein Wort. Ich sehnte mich nach den jungen Mädchen aus Elis Entourage zurück, diesen nichtssagenden Saphias, Gabrielas, Julias, Anas und Selinas mit ihrem munteren Hauptstadt-Talk.

Barbara und Rainer hassten sich, vor allem natürlich an Weihnachten. Sie belauerten einander, bis einer den ersten Stein warf, heißt: das erste Wort sprach. Es kam, natürlich, als Rainer den ersten Bissen des indischen Weihnachtsbratens im Mund hatte und Barbara ängstlich und doch auch vorwurfsvoll fragte:

»Schmeckt es nicht?«

»Nein … also wirklich. Nein, es könnte weiß Gott besser sein … also, das ist keine Meisterleistung, Herr im Himmel! «

Barbara, die 16 Stunden lang gekocht hatte, brach in Tränen aus. Rainer begann, gepresste Verwünschungen auszustoßen.

Die Kinder kamen. Der kleine Elias begrüßte artig den Patriarchen und würdigte mich keines Blickes. Wenn der Patriarch in der Kommune weilte, zählte ich nichts. Elias’ Schwester Valonia schloss sich, als sie hörte, ich sei da, sofort in ihrem Zimmer ein.

Ich nahm meinen Mantel und ging zur Tür, denn die Bescherung sollte stattfinden, und ich hatte keine Geschenke dabei. Die glatzköpfige Hausherrin kam mir hinterhergelaufen und sagte betroffen:

»Jo, ich weiß, dass ich dich vorhin so entsetzt angesehen habe, aber du sollst wissen, dass du dennoch willkommen warst.«

»Wirklich?«

»Ja, du kannst gerne wiederkommen.«

Daraufhin ging ich an ihr vorbei in die Wohnung hinein und hängte meinen Mantel wieder auf. Die Leute machten ihre Bescherung, und ich las währenddessen »In der finstren Nacht«, das Standardwerk Rainers.

Eli hatte eine neue digitale Videokamera geschenkt bekommen, mit der er alle filmte. Valonia kam aus ihrem Zimmer und ließ Aufnahmen von sich machen. Rainer wurde wie ein unbeweglicher Stein gefilmt. Barbara nahm mich zur Seite und sagte:

»Du hast ein Problem mit Rainer. Du musst versuchen, wenigstens heute damit umgehen zu können.«

»Ich habe kein Problem mit Rainer. Du hast eins, und Eli, und alle, die mit ihm in einem Raum sitzen. Sie alle trauen sich in seiner Gegenwart nicht mehr zu reden.«

»Das bildest du dir ein.«

»Nee, das war immer so. Achte einmal drauf.«

Wir gingen in den Hauptraum zurück. Alle schwiegen ängstlich. Die Luft war zum Schneiden. Das nächste Essen wurde aufgetragen. Keiner traute sich, auch nur ein Wort zu sagen.

Keiner traute sich auch, mich wahrzunehmen und einen Blick mit mir zu tauschen. Man saß auf der Bühne wie bei einem Strindbergstück. Es war das gute alte deutsche Weihnachten, wie ich es mein Leben lang gekannt hatte. Der böse Vater, die verheulte Mutter, das tolle Geschenk, die unerträgliche Spannung. Ich wusste: Gleich würde der böse Vater explodieren und das tolle Geschenk zerstören.

Nachdem das Schweigen unerträglich geworden war, sagte Barbara Nussmann:

»Ich weiß gar nicht, wo Brigitte gerade in der –«

In dem Moment explodierte Rainer. Er redete im Stakkato wutentbrannt 20 Minuten auf die Wand ein, überschüttete sie mit Vorwürfen, die Kinder flüchteten, also auch ich.

Ich verzog mich mit Eli vor den Fernseher. Wir sahen den Zeichentrickfilm »Das letzte Einhorn«, dann die Übertragung der katholischen Weihnachtsmesse aus dem Petersdom in Rom. Eine tolle Show! Der Papst hielt sich nur noch auf seinem silbernen Kreuzesstab aufrecht, war der fleischgewordene Schmerz. Eine Million Gläubige feierten den Superstar. Immer wieder wurde ihm ein Buch, ein heiliger Text, eine hippe Schrift vorgehalten, und er trug es auf unnachahmliche Art vor. Die Menge tanzte vor Glück. Es war der absolute Groove.

Danach legte ich die Uhr an, die meine Mutter mir am letzten Heiligen Abend geschenkt hatte. Ich sah auf die Uhr, ein Werbegeschenk des NDR, oder eine Aufmerksamkeit für verdiente Mitarbeiter. Meine Mutter hatte den NDR nach dem Krieg, 1947 genau gesagt, gegründet. Er hieß damals noch NDRW und sendete bis Köln und Bensberg. Tolle Leistung. Also, sie gehörte zur Gründungsmannschaft, als einzige Frau. Ihre erste Sendung hieß »Zwischen Hamburg und Haiti«. Während ich auf die Uhr schaute, beugte sich Rainer über mich, beäugte ebenfalls die Uhr:

»Was hast du denn da?«

»Eine Uhr. Hab ich geschenkt bekommen. Gut, was?«

Er lächelte beglückt. Zum ersten Mal lächelte er! Bis heute weiß ich nicht, wieso.

Die Kinder hingen an ihren Handys und verschickten SMS. Ich griff mir mein Handy und guckte nach, ob mir jemand so eine Mail geschickt hatte. Immerhin, eine Freundin von Lukas, ein Mädchen namens Annilise Schober, auch eine Afrodeutsche, ein extrem nettes hamburgisches Mädchen, hamburgischer als meine steifen Hochkampcousinen, hatte mir Happy X-mas gewünscht.

Beim Abfragen fielen mir all die vielen alten Mails auf, die meine Freundin April mir geschickt hatte. Das Aufkommen der Handy-Mails hatte dem Phänomen des Verliebens in ganz Europa enormen Auftrieb gegeben: Diese Mails heizten die Verliebtheit ungemein an. Es gab ja nichts Schöneres, als eine Mail von der Person, in die man ohnehin schon verliebt war, zu bekommen. Eine neue Mail von der April war aber nicht da. Nicht einmal auf meine letzte Mail hatte sie geantwortet.

Ich rief meine Ex-Frau Beate an. Sie war bei ihren Eltern und Brüdern im Bergischen Land. Sie sagte, sie würde seit Tagen 20 Stunden am Tag schlafen. Ich freute mich für sie.

Elias legte eine Videocassette mit einem indischen Film ein. Rainer Langhans war verschwunden. Da ich Kopfschmerzen bekommen hatte (eine Folge der Bauchschmerzen, die das indische Essen mir bereitet hatte), verschlechterte sich meine Stimmung etwas. Elias wollte mit mir zur Kirche Alt St. Peter fahren, um die Mitternachtsmesse zu sehen.

»Gibt es die denn jetzt auch auf indisch?« fragte ich.

Dann stritten wir uns über meine Freundin April, die ihm nicht gefiel. Er war eifersüchtig auf jedes weibliche Wesen, das zwischen ihm und einem seiner Freunde stand. Da ich ohnehin sauer auf ihn war, zudem Rainer zurückgekommen war und mit Barbara im Bad den diesjährigen definitiven Weihnachtskrach begonnen hatte, verließ ich die Wohnung.

Ich übernachtete in der Jugendherberge, die ebenso verwaist war wie die Flugzeuge an Heiligabend. Lukas, der bei Mira abgewiesen worden war – er hatte auf Elis Drängen mit ihr Schluss gemacht – nahm mich tags darauf mit nach Berlin zurück. Alles in allem war es ein äußerst traditionelles Fest gewesen. Wieder zu Hause, packte ich noch ein paar vergessene Geschenke aus. Barbara hatte mir außerdem einen Zentner Lebkuchen, Kerzen und Mandarinen mitgegeben. Wieder las ich Rainers Frühwerk. Dann warf ich es wütend in den Ofen und las Oscar Wilde.

*

Elias rief an. Er wollte wissen, was ich mache. Wir tauschten uns ein bisschen aus. Ich gratulierte ihm noch mal zu seiner letzten Eroberung. Natürlich dementierte er nun alles. Er war auch schlecht gelaunt.

»Du verstehst die Jugend nicht, wenn du glaubst, man macht einfach mal so einen Dreier. Das tut niemand. Das tun vielleicht alte Leute am Ende ihrer sexuellen Laufbahn. Für junge Leute ist die Sexualität heilig. Da lässt man niemanden reinschauen.«

Ich wechselte betroffen das Thema und schwadronierte von den vielen Ausländern, die ich gesehen hatte.

»Jo, du solltest mal bei den Moslems wohnen, wie ich. Ich bring dich da heute unter.«

»Du wohnst gar nicht bei Barbara?«

»Nein, das ist nur Lukas’ Propaganda, um die Pseudoehe mit seiner eigenen Mutter zu rechtfertigen.«

Er tat wie geheißen, und am Abend lernte ich Sharif und seinen Freund kennen. Ich blieb ein paar Tage. Die Wohnung wurde morgens mit arabischen Kindern überflutet. Ich hörte ihre Stimmen, aber wenn ich mittags aufstand, waren sie weg. Sharif war der »Mann mit der absoluten Menschenkenntnis«, von dem Eli schon am Telefon berichtet hatte. Ich zeigte ihm ein Foto meiner Freundin, und er sagte:

»Ha ha ha, nur ein Wort: dominant! Sie ist ganz und gar und hundertprozentig dominant!«

»Hä? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.«

Auf dem Foto schmiegte sie sich von unten wie ein kleines ängstliches Tierchen an mich, während ich manisch-herrisch direkt in die Linse starrte.

»Doch, eindeutig, sie sooo dominant, ha ha. Sie genau wissen, was wollen, und das auch exakt durchsetzen. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.«

Die April. Also so was. Es freute mich für sie. Die Moslems gefielen mir, aber die Wohnung war ein bisschen verwüstet. In dem Zimmer, das mir zugewiesen wurde, war jeder Quadratzentimeter mit Müll bedeckt: Verpackungen, schmutzige Socken und eklige Unterhosen, CDs, leere und volle Flaschen, Staub, Asche, Kerzen, afrikanische Instrumente, verbrauchte Spritzen, Tausende von Zigarettenkippen, ein durchgebrochenes Ikea-Bett mit einer müll- und fleckenübersäten Fickmatratze und ein großer Fernseher, der auf TV München eingestellt war.

Ich schlief gut in dem Zimmer, und um 21 Uhr sahen wir immer »Kommune«, die Endlos-Serie mit Rainer Langhans, die gerade wiederholt wurde. Ich räumte auf und ließ Eli den Boden schrubben, aber die Vorhänge waren heruntergerissen, letzte Reste hingen in Fetzen herunter, so dass alle ins Fenster gucken und uns beim »Kommune«-Betrachten zusehen konnten.

Einmal kam Sharif mehrere Tage nicht nach Hause, und sein Freund machte sich große Sorgen. Er traute sich nicht, zur Polizei zu gehen, und konnte nur warten. Sein Handy hatte Sharif in der Wohnung gelassen. Wir trösteten den Freund, der so verweinte Augen hatte, dass ihm das Kajal in schwarzen Schlieren runterlief. Endlich war Sharif wieder da. Er hatte dicke Ringe unter den Augen und fast weiße, zitternde Lippen, aber er war glücklich. Auf Viagra hatte er 48 Stunden mit einer Frau durchgebohnert. Wir stellten keine Fragen. Sicher war die Frau jetzt sehr in ihn verliebt. Bald würde unsere sympathische kleine WG Zuwachs bekommen.

Um mich weiterzubilden, lieh Elias in der neuen Videothek Filme für uns aus. Er steckte seinen Daumen in den Scanner und bestellte. Ich war entsetzt.

»Eli, jetzt haben sie deinen Fingerabdruck! Für alle Zeiten bist du in aller Welt identifizierbar.«

»Stimmt. Diese neue Technik wird auch von der Großindustrie gesponsert.«

»Und warum machst du es dann?«

»Ich will die Filme haben! Du musst ›Donnie Darko‹ sehen.«

»Warum?«

»Wenn du ›Donnie Darko‹ verstehst, verstehst du die Jugend.«

Das klang interessant. Ich war einverstanden. Wir sahen den Film nachts um drei Uhr. Um vier schlief Elias ein.

Ich sah wieder die üblichen Feindbilder, die in Millionen anderer Highschool-Filme, die unsere Kanäle verstopften, auch herumhüpften. Der Kampf der angeblichen Unkonventionalität gegen das Spießige. Die Lehrerin trug Brille und Dutt, die spießigen Eltern kriegten einen Schreikrampf, als sie die Tochter leicht bekleidet in einem Bett aus Rosenblüten mit einem Kerl erwischen. Und so weiter.

Natürlich fehlten auch die »bösen« Rocker nicht, die zähnefletschend Zoten rissen. Dieses ewige Gruselkabinett, in dem das Personal seit James Dean (ca. 1954) unverändert Dienst tat, sollte unsere Jugend darstellen? Das hätte Bush wohl gern. Ich glaubte es nicht.

Donnie Darko hatte natürlich auch wieder das Vierte Gesicht, konnte die Matrix besiegen und Zeitreisen unternehmen. Es wurde alles pseudowissenschaftlich begründet, so dass der erklärungshungrige junge Mensch denken muste: Irgendwas wird schon dran sein. Die Welt wurde nämlich entweder niemals erklärt, nicht einmal ansatzweise, oder so spukhaft. Als würden Geister, fünfte Dimensionen, intergalaktische Intelligenzen und die Illuminaten alles steuern. Kein Wunder, dass alle jungen Leute, wirklich alle, vollständig ratlos waren. Vom Herrn der Ringe bis zum Terminator IV, überall blühte der schiere Unsinn, der da hochtrabend und ernst daherkam, dargereicht auf einem goldenen Tablett: »Voilà, es ist angerichtet: die reine Scheiße.«

Es war natürlich alles »nur« Märchenstruktur, und am Beginn, bei »Star Wars« vor 27 Jahren, stand auch noch Märchen drauf, wo Märchen drin war. Doch wurde in Amerika das Märchenhafte auch damals schon missverstanden als das Unsinnige, das plötzlich Sinn machen soll. Der weise Gnom sagt: »Vertraue deinem inneren Schwert die Kraft an, und Gotland wird dem Glauben der Dreizehn unterliegen« oder ähnlichen Philo-Schrott. Er sagt es langsam und bedeutungsschwanger. Vergessen wir’s.

Als Eli eingeschlafen war, machte ich schnell den Flachbildschirm aus. Aus den Boxen kam weiter der Ton. Ich fand den DVD-Adapter nicht, und Elias wachte auf.

»Gefällt dir der Film nicht?« fragte er enttäuscht.

»Doch, doch, Elichen.«

»Er ist toll, nicht?«

»Naja, Fantasy ist nicht so mein Ding, weißt du ja … also der Junge ist schon sehr nett, aber warum muss er das Zweite Gesicht haben? Völlig unnötig! Er hat doch schon so eine nette Freundin.«

»Was hast du gegen Fantasy? ›Herr der Ringe‹ gab’s doch auch zu deiner Zeit. Das hat doch Qualität! «

»Qualität?! Das ist Gehirnkrebs!«

»Nein –, du musst zugeben, dass es eine zeitlose Qualität hat.«

Ich gab ihm recht. Insgeheim blieb ich bei meiner Meinung. Als ich noch zur Schule ging, waren die »Herr der Ringe«-Leser die Doofen, schon damals. Die wurden alle später Kiffer und lebten heute von der Sozialhilfe. Die Doofheit hatte sich einfach nur global durchgesetzt. Ich setzte ein liebes Gesicht auf. Eli durchschaute mich trotzdem. Er legte die Stirn in Falten.

»Wenn du bei deiner undifferenzierten Meinung gegenüber dem Esoterischen bleibst, wirst du 80 Prozent der Jugend nicht erreichen. Denn für die ist eine Welt ohne das gar nicht vorstellbar.«

*

Noch am selben Nachmittag rief mich eine etwas seltsame, mir unbekannte Frau namens Corinna Harfouch oder so ähnlich an. Sie könne nicht offen sprechen, aber es ginge um meinen Sohn und ich solle in die Redaktion einer bestimmten Zeitung kommen. Auch die Zeitung war mir unbekannt. Sie hieß »Global Attac«. Ich sagte, meines Wissens hätte ich gar keinen Sohn. Doch, doch, sagte sie sehr bestimmt.

Sie nannte mir die Adresse, druckste komisch herum und stellte sicher, dass ich auch wirklich kommen würde. Ich konnte mit dem Anruf wenig anfangen. Die Frau wirkte unsicher, aber nicht verängstigt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass etwas Schlimmes bevorstand. Wohl war die Frau sympathisch, dafür aber null erotisch; vielleicht eine Lehrerin?

Ich ging erst mal bei »Penny« einkaufen, das war ganz in der Nähe. Dann steuerte ich den Wartburg Tourist in die beschriebene Toreinfahrt bis in den dritten Hinterhof. Man sollte angeblich das Auto nicht sehen können.

Ich fand ein Schild mit der Aufschrift »Global Attac, 3. Aufgang, 4. Stock« und klingelte. Sofort öffnete sich oben ein Fenster, und eine Frau warf einen Schlüssel nach unten, der an einer sich im Flug weit bauschenden Plastiktüte befestigt war.

Ich schloss damit die schwere eiserne Tür des Warenaufzugs auf, kletterte hinein und fuhr nach oben.

Oben erwartete mich eine Kulisse, die an »Blade Runner« denken ließ. Es war sehr dunkel, man konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Ich watete durch Berge von Papier. Millionen von alten Zeitungen stapelten sich an den Wänden, sicher säuberlich geordnet. Kein Zweifel, dies war die verlassene Redaktion einer Zeitung aus dem letzten Jahrhundert. Es waren aber trotzdem Menschen da. Erst sah ich nur einen kleinen Kopf, ein blasses Gesicht unter einer 25-Watt-Lampe, das war, wie mir später gesagt wurde, die Innenpolitik. Dann erkannte ich allmählich noch weitere Menschen, nämlich die Kultur, das war ein Mann mit dem Aussehen Holm Friebes, der aber nicht Holm Friebe war, die Geschäftsleitung, das Feuilleton und den Sport.

Der Mensch, der die Geschäftsleitung darstellte, war die Frau, die mich angerufen hatte. Sie stakste unbeholfen auf mich zu, lächelte unsicher, wollte mir nicht die Hand geben. So schön wie die Innenpolitik war sie leider nicht. Die Innenpolitik trug wilde oder selbst geschnittene schwarze Haare, einen schwarzen Kapuzenpullover und nagelneue Attac-Stiefel zum Zutreten, bei drohender Gewalt von rechts. Sie mochte 26 Jahre alt sein und hatte noch keinen Freund. Aber die Geschäftsleitung lenkte mich ab.

»Dein Sohn hat genau das Richtige gemacht!«

»Elias oder wer?«

»Natürlich. Er hat einen Mittelsmann angerufen, der dann alle anderen angerufen hat. Man hat ja nur einen Anruf, bevor sie einen hochnehmen.«

»Ach!«

»Die meisten rufen dann irgendeinen Anwalt an, und das ist schon falsch. Noch ärger ist es, wenn sie sich einen fremden Anwalt geben lassen, weil ihnen kein eigener einfällt.«

»Was ist denn passiert?«

»Dein Sohn ist in Spanien festgenommen worden, weil er mit den Bombenanschlägen in Madrid in Zusammenhang gebracht wird.«

»Nein!«

»Er hat sich angeblich in der Nähe eines Lieferwagens aufgehalten, in dem Bücher mit islamistischen Schriften gefunden wurden sowie Gegenstände, die noch nicht identifiziert wurden.«

»Unsinn. Wie kommt er jetzt wieder zurück?«

»Da müssen wir sehr vorsichtig sein. Wir dürfen nicht selbst verdächtig werden. Deswegen ist es wichtig, am Telefon das Thema zu vermeiden. Das wird alles überwacht, jedenfalls bei ›Global Attac‹.«

»Aber er hat doch das Bin-Laden-T-Shirt angehabt!«

»Eben.«

»D-d-das ist doch ein Scherz! Welcher echte Terrorist würde sich sowas um den Leib binden!«

»Einer, der sich in die Luft sprengen will.«

»Aber –«

»Was?«

»Aber … er hätte sich nicht … ich meine, er hatte nie eine Freundin, das schon, das war natürlich ein Problem. Er kriegte nie was zum Bohnern. Das war hart. Ich gebe es zu. Aber er hätte sich deswegen niemals umgebracht!«

»Natürlich nicht. Das sind Schweine, die Bullen.«

»Ich hätte es sogar verstanden. Also ich hätte mich an seiner Stelle womöglich in die Luft gesprengt. Aber er war nicht so! Er ist …«

»In Spanien hatten sie vor einer Generation noch echten Faschismus. Unter Franco!«

»Er ist ein sonniger kleiner Kerl. Das müssen die doch sehen!«

»Das ist, als wenn Hitler noch in den siebziger Jahren bei uns öffentlich Widerstandskämpfer hingerichtet hätte. Das geht nicht so schnell weg.«

»Weiß seine Mutter davon?«

»Ja. Sechs Leute wissen bisher davon. Keiner wird telefonieren. Du kannst dich darauf verlassen.«

»Wer ist das?«

»Darf ich dir nicht sagen, ist besser für dich.«

»Habt ihr schon das Auswärtige Amt eingeschaltet?«

»Wir dachten, das solltest du tun.«

Wir redeten nun ein bisschen über Gott und die Welt, um uns gegenseitig besser einschätzen zu können. Sie sah schnell, dass sie einen feuerfesten Globalisierungsgegner vor sich hatte. Meine Bewunderung für Gerhard Schröder und meine Mitgliedschaft in der SPD verschwieg ich, zumal die Innenpolitik mitsamt ihren glänzenden Schnürstiefeln hinzugezogen wurde. Sie hatte extra ihren Macintosh-Computer von 1984 samt Programm Word 3.o ausgeschaltet und war mit den zentnerschweren Beinklötzen effektvoll durch das endlose Loft auf uns zumarschiert, vorbei an selbst geschweißten Stahlkonstruktionen, Stahltischen, Stahlregalen und Stahlstühlen. Hier war Underworld, Mann! Ein toller Film. Eli hatte eben immer die richtigen Freunde. Ich erklärte mich ohne Umstände bereit, das Außenministerium zu kontaktieren.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Joachim Lottmann, Die Jugend von heute, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. Das Buch erscheint am 27. September.