Evakuiert den Osten!

Der »Aufbau Ost« wird immer öfter in Frage gestellt. Wer im Osten keinen Job findet, soll umziehen, sagt der Bundespräsident. von stefan wirner

Helmut Kohl hat allen Grund, missmutig zu sein. Denn sein Projekt der Wiedervereinigung erfreut sich in Deutschland immer geringerer Beliebtheit. Auf einer Veranstaltung der CDU in Strausberg bei Berlin rechtfertigte der frühere Bundeskanzler in der vorigen Woche seine Rede von den »blühenden Landschaften« aus dem Jahr 1990 und seine Entscheidungen in der Zeit der Wiedervereinigung.

An der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in Ostdeutschland trage auch die deutsche Industrie eine Mitschuld, sagte er. Viele Unternehmer im Westen hätten kein Interesse an einer Entwicklung der Betriebe in der DDR gehabt und sich nur für die 17 Millionen neuen Konsumenten interessiert. »Warum war denn keiner von denen im Chemiedreieck Halle-Bitterfeld?« fragte Kohl. Er habe Francois Mitterrand, den damaligen französischen Staatspräsidenten, »beknien« müssen, dass der Mineralölkonzern Elf Aquitaine sich in Leuna engagierte. Wenn Mitterrand derart »bekniet« wurde, fragt sich jedoch, warum der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Elf Aquitaine, Loik Le Floch-Prigent, im Jahr 2001 in einem Interview in der Zeit angab, zur Beschleunigung des Leuna-Geschäftes auf »Lobbymaßnahmen« zurückgegriffen und Schmiergelder an deutsche Politiker gezahlt zu haben.

Der Auslöser für die jüngste Debatte über Erfolge und Misserfolge des »Aufbaus Ost« war ein Interview des Bundespräsidenten Horst Köhler im Focus. Köhler sagte dem Magazin, es gebe »überall in der Republik große Unterschiede in den Lebensverhältnissen«. Das gehe »von Nord nach Süd wie von Ost nach West«. Wer die Unterschiede einebnen wolle, »zementiert den Subventionsstaat und legt der jungen Generation eine untragbare Schuldenlast auf«.

Die Äußerung, die wie eine lapidare Tatsachenfeststellung daherkommt, hat es in sich. Denn erstmals stellt ein führender Vertreter der deutschen Politik das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West in Frage. Köhler, der sich vorgenommen hat, als Bundespräsident »unbequem« zu sein, sagt den Ostdeutschen, wo es lang geht: »Und wenn ein Arbeitnehmer in seiner Heimat keinen Arbeitsplatz findet, der seinen Ansprüchen gerecht wird, dann muss er selbst entscheiden: entweder dort hinziehen, wo er Chancen sieht, seine beruflichen Ziele zu verwirklichen, oder bewusst dem Leben in der unmittelbaren Heimat den Vorzug geben.« Sollen demnächst alle jungen Ossis Wessis werden und aus der ehemaligen DDR ein Freiluftaltenheim? Es drohen fürwahr »unbequeme« Zeiten.

Die Abwanderung aus dem Osten ist seit langem ein Problem. Vor allem immer mehr junge Leute verlassen die neuen Bundesländer, was Köhlers Verweis auf die Generationengerechtigkeit besonders perfide macht. Eine Abwanderung aus Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit gibt es zwar auch im Westen, etwa aus Teilen des Ruhrgebiets. Aber im Osten kommt das Lohngefälle hinzu. »Unsichere Arbeitsplätze und schlechte Verdienstmöglichkeiten vertreiben vor allem junge Menschen aus dem Osten«, schrieb die IG Metall in einer Analyse, mit der sie im vorigen Jahr die Streiks für die Einführung der 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metallindustrie rechtfertigte. »Es ist heute niemandem zu vermitteln, warum jemand für weniger Geld länger arbeiten soll.«

Doch Teile des politischen und wirtschaftlichen Establishments stellen sich die Lösung der sozialen Probleme im Osten völlig anders vor. Klaus Zimmermann, der Direktor des Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), etwa sprach sich im Handelsblatt dafür aus, die Umzugsbereitschaft von Menschen in schwachen Regionen zu fördern; das sei der einzige Weg, ihnen zu helfen. Auch Hans Werner Sinn vom Münchner Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo) konnte einmal mehr nicht an sich halten. Er machte die Sozialleistungen, die nach Ostdeutschland geflossen seien, für die dortige Massenarbeitslosigkeit verantwortlich. Die Sozialtransfers hätten im Osten die Löhne nach oben getrieben und Firmenansiedlungen erschwert. Nicht der Staat, sondern der Markt solle für gleiche Lebensverhältnisse sorgen. Wie das der Markt eben so tut, und wie man es weltweit, von Monaco bis Mosambik, beobachten kann.

Neben den Vertretern der deutschen Wirtschaft unterstützen vor allem Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) Köhler. Steinbrück wirbt in Nordrhein-Westfalen schon lange um Wähler, indem er vorhandene Ressentiments gegen Ostdeutsche bedient. Bei der Verteilung von Finanzmitteln für Investitionen dürfe es »keine weitere Unwucht zwischen Ost und West geben«, sagte er Spiegel online. In Zukunft müsse »die Bedürftigkeit und nicht die Himmelsrichtung den Ausschlag« geben. Wenn wegen der Ostförderung ein Ungleichgewicht zu Lasten seines Landes entstehe, gehe er »auf die Barrikaden«. So gelingt Steinbrück das Kunststück, obwohl er Mitglied einer Partei ist, die auf Bundesebene gerade den Sozialabbau organisiert, sich zum Sprecher der Arbeitslosen im Ruhrpott aufzuschwingen.

Es gab auch Kritik an Köhlers Äußerungen, etwa von den Grünen und einigen ostdeutschen Politikern. Die Kritiker betonten meist, dass ein Bundespräsident das Land nicht spalten dürfe. Köhlers Unterstützer hingegen warnten vor »Gleichmacherei«, als ob es sich bei Kohls Versprechen von den »blühenden Landschaften« um ein sozialistisches Experiment gehandelt habe. Der Vorsitzende der SPD, Franz Müntefering, sagte, die »Gleichwertigkeit« der Lebensverhältnisse bleibe das Ziel der Politik, man müsse aber zwischen »Gleichwertigkeit« und »Gleichheit« unterscheiden. So differenziert geht die neue Sozialdemokratie an das Problem heran. Der »Aufbau Ost« ist nicht mehr »Chefsache«, sondern eine Frage der Begrifflichkeit.

Über einen Effekt der von Köhler verschärften Debatte dürften sich alle gefreut haben, die Unternehmer ebenso wie die Parteien. Denn aus der Diskussion über den Sozialabbau der Bundesregierung wurde eine Diskussion über den Gegensatz zwischen den alten und neuen Bundesländern.

Es waren vor allem Politiker der SPD, die das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland zum Thema machten, als die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV begannen. Bundeskanzler Gerhard Schröder und Franz Müntefering warnten Ende August vor einer Spaltung des Landes und führten so das Thema erst in die Debatte ein. Matthias Platzeck (SPD), der brandenburgische Ministerpräsident, bezeichnete zur selben Zeit Hartz IV als »Westgesetz«, obwohl es vor allem ein sozialdemokratisches ist. Vehement setzte er sich im Wahlkampf in Brandenburg dafür ein, dass das Arbeitslosengeld II für Ostdeutsche abzüglich der Mietzuschüsse nicht nur wie vorgesehen 333 Euro betragen soll, sondern 345 Euro wie für Westdeutsche. Die soziale Gerechtigkeit ist ihm durchaus 12 Euro wert.

Köhler hat in einem Sinne Recht, wenn er es auch anders meint: Die Lebensverhältnisse der Wohlhabenden am Starnberger See sind und bleiben anders als die der Arbeitslosen in Gelsenkirchen und Eisenhüttenstadt. Aber kurz vor dem 3. Oktober und dem 15. Jahrestag des Mauerfalls wird nun über die Befindlichkeiten zwischen Rhein und Oder diskutiert und nicht über den Sozialabbau, den die Bundesregierung betreibt.